Schullektüre im Südwesten: Unbeirrt wucherndes Moos

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„Zweier ohne“, ein Buch des Spiegel-Redakteurs Dirk Kurbjuweit, bietet diverse Sexszenen auf. Das Buch wurde von Grün-Rot im Südwesten zur Pflichtlektüre für die Jahrgangsstufe 10 an Realschulen erklärt. Das hat eine Debatte entfacht, in der es um mehr geht als um Schullektüre.

von Dr. Georg Alfes

„Entsetzt“ sei man gewesen, bekundet ein Ehepaar aus Baden-Württemberg, das wir an dieser Stelle der Einfachheit halber Frau und Herr Jäger nennen wollen. Die älteste Tochter besucht die zehnte Klasse einer Realschule in Oberschwaben, und zur Freude ihrer Eltern nimmt sie die Schule ernst. Zumindest liest sie die vorgesehenen Lektüren tatsächlich, was in Zeiten der frei verfügbaren Online-Rezension keineswegs selbstverständlich ist. Doch ein Buch, das der Sechzehnjährigen vom baden-württembergischen Kultusministerium zur Durcharbeit verordnet wurde, mag den Jägers nicht so recht gefallen: „Zweier ohne“ heißt das Werk. Es stammt aus der Feder des Spiegel-Redakteurs Dirk Kurbjuweit, wurde 2001 veröffentlicht und zehn Jahre später von Grün-Rot im Südwesten zur Pflichtlektüre für die Jahrgangsstufe 10 an Realschulen erklärt. Mittlerweile haben Lehrkräfte die Möglichkeit, statt dessen Max Frischs „Andorra“ oder ein Werk von Friedrich Dürrenmatt mit ihren Schülern erörtern.

Doch warum hat das Ehepaar Jäger dagegen protestiert, dass seine Tochter den Roman lesen musste? Und weshalb sind auch so viele andere Eltern und zahlreiche Schulen gegen das Werk auf die Barrikaden gegangen? Wegen seines schwülstigen Sprachstils, seiner unfreiwilligen Komik, seiner oft grotesken Überzeichnungen? All das mag eine Rolle gespielt haben, aber es sind wohl vor allem diverse Sexszenen, mit denen Kurbjuweit den Elternzorn auf sich gezogen hat.

Nun ist die natürliche Feindin der Erotik nicht die Keuschheit, sondern die Langeweile. Und so mag man bezweifeln, dass das kurbjuweitsche Geschwurbel tatsächlich dazu beiträgt, unsere Jugend ganz leckerfritzig zu machen. Sofern es dazu eines äußeren Anstoßes bedarf. In „Zweier ohne“ – wobei der Titel einen harmloseren Hintergrund hat, als manch verdorbene Phantasie vermuten mag – wird über Kopulationsbemühungen auf der Hobelbank philosophiert und über Rostfarbe, die sich im Sturm der Leidenschaft über den Boden ergießt. Kurbjuweit schreibt über Brüste im Schwimmbad und über „unbeirrt wucherndes Moos“. Hin und wieder kommt auch mal ein Begriff vor, mit dem manch herzensgute Großtante gern ihre Katze liebkost. Doch erst wenn sich der Autor dann noch darüber auslässt, dass junge Mädchen „ein bisschen nach Gummi“ riechen – was wohl eine Entwicklung aus neuerer Zeit sein muss –, erst wenn er schließlich über „eine Brustwarze“ spekuliert, die sich anfühlt „so hart wie ein kleiner Stein“ („und daran zerschellte das Nein, zerspringt in tausend Stücke“), dann liegt eine Horde Sechzehnjähriger vermutlich laut lachend unterm Tisch.

Die Jugend – und wie Erwachsene sie sich vorstellen

Trotzdem ist das Entsetzen von Eltern über diese Art von Schullektüre verständlich, und zwar aus mehreren Gründen:

Zunächst ist die Darstellung jugendlicher Sexualität in Kurbjuweits Buch schlicht und ergreifend von befremdlicher Realitätsferne. Man fragt sich unwillkürlich, wo sich die Zeit des Heranwachsens auch nur ansatzweise so gestaltet, wie es vom Autor geschildert wird. Nein, weder früher noch heute tauschen sich Zehntklässler mit Hinz und Kunz über sexuelle Erfahrungen aus und prahlen mit vermeintlich Erlebtem. Nein, weder früher noch heute ist es Jugendlichen mehr oder minder egal, mit wem „es“ denn nun endlich geschieht, und es gab und es gibt mit Sicherheit niemals Absprachen zwischen befreundeten Jungen, sich an demselben Mädchen zu versuchen. Und nein, nekrophile Tendenzen gehören gewiss nicht zum Repertoire halbwegs normaler junger Leute, und wenn eine Leiche vom Himmel fällt wie in Kurbjuweits Buch, dann rennt jeder Teenager schreiend davon.

Ebenso eigenartig ist die Vorstellung, Jugendliche hätten besondere Freude daran, sexuelle Themen im Klassenverbund, mit dem Lehrer oder mit sonstwelchen Erwachsenen zu diskutieren. Niemand will, von den Mitschülern neugierig beäugt, mit hochrotem Kopf Passagen über Eindringtiefen vortragen. Auch Kurbjuweit selbst ist das letztlich bewusst. In einem langen, langen „Spiegel“-Artikel, in dem er sich darüber empört, künftig mit Frisch und Dürrenmatt um die Gunst der Lehrerschaft wetteifern zu müssen, beschreibt er sein eigenes Verhalten, wenn er zu einer Lesung seines Werkes in eine Schule eingeladen wird: „Ich lese die Sexszenen normalerweise nicht vor“, so der Autor. „Ich komme als Fremder zu den Schülern und finde nicht, dass sie sich mit einem Fremden über Sex auseinandersetzen müssen“. In der Tat, kein Jugendlicher will das. Aber auch nicht jeder Mitschüler ist ein enger Vertrauter, und manchmal ist auch der Lehrer nicht unbedingt einer, mit dem man intime Themen erörtern möchte. Muss man insofern all jene, die das problematisieren, als „christliche Fundamentalisten“ verteufeln, wie es Kurbjuweit tut? Muss man sich dazu versteigen, Kritikern seines Buches Furcht vor der „Konkurrenz der Exstasen“ zu unterstellen, die man zwischen Sex und Religion am Werke sieht? In der einfachen Welt säkularer Eiferer sind christliche Eltern bigotte Frömmler, die ihren Nachwuchs unaufgeklärt in die Hochzeitsnacht schicken. Aber was wäre, wenn sie einfach nur ein wenig Respekt vor der Privatsphäre ihre Kinder zeigten? Und genau diesen auch von anderen einforderten?

Alles hört auf Staatskommando

Geradezu verstörend ist schließlich die Position Dirk Kurbjuweits zur Rolle des Staates in der freiheitlichen Gesellschaft. Und doch ist sie der Perspektive jener nicht unähnlich, die sich in der baden-württembergischen Debatte für die Novelle des Bildungsplans starkmachen. Es gehe mit Blick auf sein Buch darum, „wer über Schulfragen entscheidet, der Staat oder religiöse Kreise“, schreibt Kurbjuweit in seinem „Spiegel“-Artikel. „Nach meinem Verständnis von einer säkularen Gesellschaft muss es der Staat sein, weil nur er demokratisch legitimiert ist“.

Im Grunde gilt es, an dieser Stelle einen Moment innezuhalten. Der Staat – und zwar er allein – entscheidet über Schulfragen, „weil nur er demokratisch legitimiert ist“? Gibt es in einer solchen Welt eigentlich noch Mütter und Väter und ihr natürliches Recht, über die Erziehung ihrer Kinder zu befinden? Gibt es noch Lehrkräfte, die über eine hohe Kompetenz im Umgang mit Heranwachsenden verfügen und ja vielleicht auch ihrerseits eine geeignete Schullektüre auswählen könnten? Gibt es noch die Vielfalt des Schulsystems mit öffentlichen und privaten Bildungsangeboten, mit Ersatz- und Ergänzungsschulen, ja auch mit Schüler- und Elternvertretungen, die ihrerseits berechtigten Einfluss ausüben?

Der Begriff „Demokratie“ bezeichnet die Regel, die im begrenzten Bereich des Staatlichen Entscheidungen herbeiführt. Nicht weniger. Aber vor allem auch nicht mehr! Was Kurbjuweit beschreibt, ist eine Diktatur der Mehrheit, die freie Menschen ihrer Verantwortung beraubt – für sich selbst und füreinander. Die Debatte um ein Buch geht gar nicht nur um ein Buch, und der Streit um den Bildungsplan geht gar nicht nur um den Bildungsplan. Es sind vielmehr zwei verschiedene Modelle von Gesellschaft, die da zur Diskussion stehen.

Die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg verdient Anerkennung dafür, auf Bedenken von Eltern eingegangen zu sein und jetzt zumindest Alternativen zu „Zweier ohne“ anzubieten. Kultusminister Stoch sieht in der Empörung des Autors darüber vor allem „gekränkte Eitelkeit“ am Werk, wie er im FAZ-Interview darlegt. Doch wenn künftig tatsächlich „der Bezug zur Lebenswelt der Schüler“ das „wichtigste Kriterium“ bei der Auswahl von Prüfungsliteratur darstellen soll, dann steht Dirk Kurbjuweit wohl noch eine weitere Kränkung bevor.