Der Protest auf der Straße ist ein Blick in den Spiegel

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Wir haben eine hohe Scheidungsrate, dafür aber die Homo-Ehe. Wir engagieren uns für Behinderte, aber treiben Babys ab. Wir sind gegen Tierversuche, aber haben die größte Kosmetikindustrie. Wir knuddeln unser Haustier, aber bringen unser Einjähriges in die Kita, wegen der Sozialkompetenz. Ein kritischer Blick auf unser Wertesystem von Jugend(sprach)forscher und FAZ-Autor Dr. Martin Voigt. 

Die kaum noch schleichende Islamisierung des Abendlandes ist nur der äußere Anlass für PEGIDA. Der Schritt auf die Straße unter tausende „Spaziergänger“ ist die Bestätigung und Suche nach der eigenen Identität angesichts eines Flüchtlingsstroms aus völlig fremden Kulturräumen. Der Ruf „Wir sind das Volk“ ist als Frage zu verstehen. Wer sind wir eigentlich? Welche Werte wollen wir verteidigen? Und da wird es schwammig. Unser Wertesystem lässt sich nicht so einfach erfassen wie die messbare Zahl an Zuwanderern.

„Habt Spaß, probiert alles mal aus“

Die Inventur unseres moralischen Zustands soll mit dem Programm jener Politiker beginnen, die sich weigern, die Nationalhymne zu singen, die christliche Feiertage und Symbole abschaffen und den Gottesbezug aus Verfassungen streichen: Abtreibung als Menschenrecht, Babys in die Krippe, Alte ins Heim, Sterbehilfe auf Rezept. Haben Politiker Schuld oder sind sie ein Symptom? Sie wollen das Ehegattensplitting und Betreuungsgeld abschaffen und reden von „Nur-Hausfrauen“ und „Heimchen am Herd“. Sie fordern Ganztags- und Gemeinschaftsschulen und Abitur für alle. Sexuelle Vielfalt soll in jedes Schulbuch. „Habt Spaß, probiert alles mal aus“, sagen die Pädagogen von pro familia.

Jene kinderlosen Politiker, die Pornos verharmlosen und Drogen legalisieren, haben mit sich genug zu tun, aber wie geht es uns und unserer supertoleranten, weltoffenen Spaß-Gesellschaft? Werden aus Kindern, die von einer Aufbewahrungsanstalt in die nächste gebracht werden, die ihre emotional verkrachten Eltern als gestresste Arbeitnehmer erlebt und als Teenager alles ausprobiert haben, später glückliche Ehepaare, die sich rührend um ihre 1,4 Kinder kümmern?

Wir haben eine hohe Scheidungsrate, dafür aber die Homo-Ehe. Wir engagieren uns für Behinderte, aber treiben Babys ab. Wir sind gegen Tierversuche, aber haben die größte Kosmetikindustrie. Wir knuddeln unser Haustier, aber bringen unser Einjähriges in die Kita, wegen der Sozialkompetenz. Na klar. Wir reden von Menschenwürde und gucken RTL. Wir posten R.I.P. auf Facebook, wenn ein Udo Jürgens oder Joe Cocker stirbt, aber bringen unseren Opa ins Heim. Unser Gebet in einer Kirche ist länger her als der Besuch bei YouPorn. Wir verteilen Kondome in der sechsten Klasse und hoffen, dass unsere Kinder die große Liebe finden.

Abschaffung von Ehe und Familie

Fast möchte man sagen, jedes Volk hat die Vertreter, die es verdient; aber ganz so simpel ist das nicht. Eine bestimmte Politikerkaste hat einen siebten Sinn für gesellschaftliche Steuerungen, die dem familiären Zusammenhalt schaden und zur kulturellen und identitären Ausdünnung beitragen. Wie um den Sack zu zu machen, schleudern sie uns ins Gesicht: „Eine kinderarme, alternde Gesellschaft braucht mehr Migration.“

Der marxistische Philosoph Antonio Gramsci erkannte, dass für die kommunistische Revolution die Zerstörung der Gesellschaft nötig ist. Sozialismus und Kommunismus sind nicht mehr en vogue. Aber der kulturelle Wandel schreitet seit den späten Sechzigern auch ohne offiziellen „ismus“ voran. Das Ziel ist nach wie vor, Ehe und Familie abzuschaffen, denn in diesen natürlichen Bindungen entstehen die wirksamen Resistenzen gegen Ideologien. Drei wesentliche Zielscheiben hat die Kulturrevolution: 1) Mutter-Kind-Bindung, 2) Familie, 3) Polarität der Geschlechter und stabile sexuelle Bindungen. Der schleichende Bevölkerungsaustausch betrifft Völker, die in diesen drei Punkten seelisch marode sind.

Beispiel: Rotherham. Gelang der organisierte Missbrauch von 1400 Kindern und Teenagern nur über Drohung, Gewalt und Erpressung? Wo war in den ganzen Jahren die existenzielle Wut zutiefst verletzter Eltern? Fehlanzeige! Die Dauervergewaltigung gedieh nicht ohne Grund in einem Milieu vorstädtischer Arbeitersiedlungen mit zerrütteten Familien. Emotional verwahrloste Mädchen waren die perfekten Opfer: Kein positives Bild von Vater und Mutter, keine Vorstellung von Geborgenheit und von sich als ein Mensch, der geliebt wird. Da reichten fünf Minuten geheucheltes Interesse und die zwölfjährigen Mädchen fraßen ihren muslimischen Vergewaltigern aus der Hand.

Die totalitären Tendenzen deutscher Familienpolitik beschreibt Hanne K. Götze in ihren Beiträgen zu den psychosozialen Spätfolgen der Krippenerziehung: „Die Bindung muss – je früher, umso wirksamer – gestört werden, denn instabile Persönlichkeiten mit unsicheren Bindungsmustern sind umso leichter zu manipulieren.“ Rotgrün weiß das nicht erst seit Manuela Schwesig. Schon 2002 schwärmte Olaf Scholz vom Ausbau der Ganztagsbetreuung und von einer SPD, die „die Lufthoheit über den Kinderbetten“ und „die kulturelle Revolution“ erreicht.

„Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.“ Das afrikanische Sprichwort muss oft als Rechtfertigung für Ganztagsbetreuung und neue Familienmodelle herhalten und soll die Kernfamilie als romantisches Ideal entlarven; ein naturalistischer Fehlschluss. Mutter und Vater waren stets die primäre und sekundäre Bindungsperson innerhalb eines Bindungskomplex aus Großfamilie und Dorfstruktur. Die in Ballungszentren vereinzelte Kleinfamilie mit Eltern, die den ganzen Tag außerhalb des Sichtfelds ihrer Kinder auf Arbeit sind, ist ein postmoderner Unfall.

Pille-Porno-Puff-Idylle

Die sexuelle Revolution gibt den Familien den Rest. Sie greift das an, was uns als mitfühlende Wesen ausmacht. Freie Liebe, promiskuitives Verhalten und wechselnde Beziehungen sind das Gegenteil von Treue, Wertschätzung und echter Liebe. Das schrittweise Auflösen und Ersetzen der Sexualmoral durch eine Pille-Porno-Puff-Idylle ist der bewusste Angriff auf die natürliche Würde und Identität des Menschen.

Wie durch ein Krebsgeschwür zerfallen Familien von innen heraus und suchen verzweifelt nach dem neuen Patchwork-Glück. Neben der ökonomischen Belastung kinderreicher Familien liegt hier eine weitere Ursache für den demographischen Wandel. „Aber Kinder kriegen die Leute doch immer“, entschuldigte Konrad Adenauer seine Konstruktionsfehler im Rentensystem. Er implizierte intakte Ehen mit einer emotional stabilen Bindung sowie ein Sexualverhalten, das Kinderwünsche nicht ausschließt. Doch es kam anders: Die sexuell befreiten Geschlechter verachten sich gegenseitig und verschieben das Kinder-kriegen auf später, wenn der richtige Lebensabschnittspartner da ist.

Dass tierische Gemeinschaften à la Kommune 1 für das Gefühlsleben keine Befreiung bedeuten, hat sich herumgesprochen. Aber wie glücklich sind eigentlich Ehen, wenn die Ex-Beziehungen ihren Schatten in die Gegenwart werfen? Die Eskalation passiert, wenn nicht klar ist, wer den Geschirrspüler zuletzt eingeräumt hat, aber Enttäuschung und Wut schwelten schon lange im Unterbewussten und so kommt es, dass viele Kinder ihren Papa nur noch am Wochenende sehen. Das ist dann der perfekte Start in ein stabiles Liebesleben? Eher nicht. Die dritte befreite Generation, die Enkel der 68er entwickeln sich zu einem bindungsunfähigen, egozentrischen, konsumorientierten Proletariat, das auf einfache Reize reagiert, Universitäten an ihr Limit bringt, an Windenergie glaubt, irgendetwas „Soziales“ wählt und den x-ten Ex via WhatsApp abserviert.

Opfer der sexuellen Revolution werden ihre besten Soldaten

Manchmal finden sich noch ein paar Eltern zusammen, die gegen die staatliche Sexualisierung im Schulunterricht demonstrieren oder Mahnwachen gegen Abtreibung abhalten. Die Antifa bewirft sie mit kotverschmierten Kondomen und ruft ihnen höhnisch entgegen „eure Kinder werden wie wir“, ahnend, wie zuverlässig die sexuelle Revolution ihre Wirkung entfaltet. Ihre Plakatsprüche sind Ausdruck eines aus biographischen Brüchen resultierenden Familien- bzw. Selbsthasses, der stark sexuell aufgeladen ist: „Lieber Sperma im Haar als Kuchenbasar“, „Wichsen gegen Rechts“, „Rudelfick statt Physik“, „Gang-Bang-Sause statt große Pause“, „Muschi, Pimmel, Regenbogen, so wird ein Kind erzogen“ oder „Deutschland ist Scheiße, wir sind die Beweise“. Die hier offenbar werdende sexualisierte Wut auf die eigene Kindheit überträgt sich auf Kinder, die die Geborgenheit einer intakten Familie ausstrahlen. Die Opfer der sexuellen Revolution werden ihre besten Soldaten, denn ihre emotionale Not soll anstecken. Sie stacheln zu Drogenkonsum und sexuellen Experimenten an, auch ohne die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ gelesen zu haben.

Der Hass auf die eigene Herkunft ist der gemeinsame Nenner jeglicher linker Couleur von den steuerfinanzierten Autonomen über queer-Aktivisten bis zu den Vertretern der evangelischen Kirche. Es ist folglich keine bunte Truppe, die auf Anti-PEGIDA-Demos ihren Weltschmerz in die Nacht brüllt, bevor die Gratis-Konzerte losgehen.

Für welche moralischen Werte stehen wir?

Wer vor 25 Jahren auf die Straße ging, hatte klare Fronten: Wir, das Volk, sind gegen die kommunistische Führungsriege. Wer heute gegen die Islamisierung des Abendlandes auf die Straße geht, muss wissen, mit welchen Werten er der fremden Kultur begegnen will. Für welche moralische Überzeugungen steht er ein, damit ihn das hedonistische Werte-Vakuum nicht aufsaugt? Der Schritt auf die Straße ist ein Blick in den Spiegel und nur vordergründig ein „Wir gegen die da oben“. Wir sind das Abendland, aber wer sind wir? Wie lebendig ist das Christentum? „Der Glaube ist heute zur Intimsphäre geworden, während wirklich Intimes überall publik gemacht wird,“ sagte der Prälat Heiner Koch mit offensichtlichem Bezug zu Sigmund Freud: „Schamlosigkeit ist das erste Anzeichen von Schwachsinn.“

Cui bono, wenn die Enthemmung nicht der Porno-Industrie allein überlassen wird, sondern das Schamgefühl bereits Grundschülern abtrainiert wird? Was ist das für ein krankes Volk, das Prostituierte in Schaufenstern präsentiert und seinen Mädchen die erste Pille-Packung wie in einem Initiationsritus überreicht? Welches kulturelle Bewusstsein hat ein Volk, das Weltmeister im Porno-Gucken ist? Wer seine Würde verliert, wird zum Spielball. Ist das das Ziel? Sozialistische Diktaturen waren etwas, gegen das man seine Seele wappnen konnte. Sexualisierung wirkt hingegen wie ein schleichendes Gift. Wenn das emotionale Ökosystem einmal kippt, braucht es weder Mauern noch Panzer, um ein „vielfältiges“ Volk (ab-) zu schaffen.

Protest gegen die Islamisierung wird zur Gretchenfrage: Ist die Ostergeschichte nur noch Folklore? Die EKD setzt sich lieber für sexuelle Vielfalt als für die Botschaft der Bibel oder verfolgte Christen ein. Anstatt mit Eltern gegen Taschenmuschis, Dildos und Gruppensex-Rollenspiele im Unterricht zu protestieren, bildet sie mit Queer-Aktivisten und Antifa das sogenannte „breite bürgerliche Bündnis“. Die Kirche auf der dunklen Seite ist nichts Neues, aber wie voreilig sie diesmal das Licht ausmacht, ist schon erstaunlich.

Dr. Martin Voigt (*1984 in Halle an der Saale) ist Jugend(sprach)forscher und hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München germanistische Linguistik und Soziologie studiert. Seine Dissertation “Mädchenfreundschaften unter dem Einfluss von Social Media” ist 2015 beim Peter Lang Verlag erschienen. Zusammen mit der Bundespolizeidirektion München hat er von 2011 bis 2014 ein Präventionsprojekt betreut. Seit 2014 schreibt er als freier Autor für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Junge Freiheit.

Weitere Informationen zu Publikationen etc. finden sich auf der Seite der Hansen Stiftung:
http://www.forschungsstelle.org/aktivitaeten/fellowship/alumni/voigt/