Verfassungsrechtler Gregor Kirchhof: Der zentrale Ort für die Entwicklung des Kindes ist die Familie

In einem juristischen Aufsatz von 2018 erklärt Prof. Dr. Gregor Kirchhof, “dass eine Grundgesetzänderung zugunsten von Kindern nicht notwendig ist, vielmehr Gefahr läuft, das geltende Schutzsystem zu schwächen”.

Die rechtliche Stellungnahme des Augsburger Verfassungsrechtlers Prof. Dr. Gregor Kirchhof für die Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags zur Verankerung von „Kinderrechten“ im Grundgesetz von 2013 wurde hier bereits vorgestellt. Im September 2018 veröffentlichte Kirchhof zu dieser Frage zudem noch einen Aufsatz in der “Neue Juristische Wochenschrift”, in dem er zunächst festhält, dass die UN-Kinderrechtskonvention und die deutschen Landesverfassungen “insgesamt weder Anlass noch Vorbild für eine Grundgesetzänderung zugunsten von Kindern” bieten (Seite 2691). Das Grundgesetz entspreche einem anderen rechtlichen System als die völkerrechtliche Konvention.

Vor allem warnt der Rechtswissenschaftler aber davor, dass durch “Kinderrechte” im Grundgesetz “die Eltern-Kind-Beziehung in Ausnahmefällen partiell oder ganz ersetzt” und somit “die familiäre Beziehung nachhaltig” verletzt würde (Seite 2691f). Darüber hinaus sei jedes Kind “grundrechtsberechtigt, wird durch die Grundrechte umfassend geschützt” (Seite 2692):

Nach Art. 1 I GG ist die Würde jedes Menschen zu achten und zu schützen, unabhängig davon, ob er alt oder jung, krank oder gesund, arm oder reich ist. Dieses Schutzkonzept erfasst jeden Menschen und gibt vor, dass die Grundrechte ebenfalls jeden Menschen schützen, dieser umfassende Schutz nicht durch spezielle Grundrechte relativiert, nicht nach dem Alter der Berechtigten parzelliert wird. Besondere Kindergrundrechte haben in diesem Schutzkonzept keinen Platz. Der umfassende Grundrechtsschutz jedes Menschen ist Kernanliegen des modernen Verfassungsstaates, das nicht aufgegeben werden darf.

Zusammenfassend schreibt Prof. Kirchhof (Seite 2693):

Die Regelungsstruktur des Grundgesetzes bietet keinen Platz für spezielle Kindergrundrechte und für Kinderrechte gegenüber den Eltern mit Verfassungsrang. Solche Regelungen würden den umfassenden Grundrechtsschutz sachwidrig spalten, der Elternverantwortung und der Balance zwischen Kindern, Eltern und öffentlicher Hand schaden.

Gregor Kirchhof hält außerdem fest, dass jede verfassungsrechtliche Betonung der Ausrichtung des Staates auf das Kindeswohl in das staatliche Wächteramt zu integrieren und nicht davon zu trennen sei. Denn die primäre Verantwortung der Eltern für die Erziehung des Kindes dürfe nicht geschwächt werden (Seite 2693):

Ein ausdrücklicher Schutz der Kinder ist insgesamt nicht von Art. 6 GG, von der Familie, von der Elternverantwortung zu trennen. Ansonsten droht ein Gleis gelegt zu werden, das die Kinder im Rechtsleben, in der kontinuierlichen und andauernden rechtlichen Interpretation der Verfassung durch Jugendämter, Gerichte und weitere Institutionen von den Eltern entfernt. Jedes Kind bedarf insbesondere in jungen Jahren “des Schutzes und der Hilfe, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit” zu entwickeln. Das Grundgesetz erwartet eine Kooperation zwischen Staat und Familie, setzt dabei aber unmissverständlich auf die Erstverantwortung der Eltern und das Wächteramt des Staates.

Dementsprechend schließt Kirchhof, dass eine Grundgesetzänderung nur die Elternverantwortung bestätigen und die Pflicht des Staates zur Unterstützung der Eltern betonen solle, sodass die Balance zwischen Eltern, Kind und Staat nicht gestört würde, “das bewährte Schutzsystem des Grundgesetzes vielmehr zugunsten der Kinder präzisiert”.

Den gesamten Artikel von Prof. Dr. Gregor Kirchhof kann man hier lesen.

Die Große Koalition möchte bis Ende 2019 einen ersten Entwurf für die Aufnahme von “Kinderrechten” ins Grundgesetz vorlegen. Dies ist nicht der erste Versuch. In den vergangenen Jahren haben zahlreiche renommierte Rechtswissenschaftler Stellungnahmen und Gutachten zu dieser Frage verfasst, die wir hier in unregelmäßigen Abständen erneut veröffentlichen und in die aktuelle Debatte einbringen möchten.