Die sexuelle Revolution missbraucht ihre Kinder

Foto: André Cros. LizenzCC BY-SA 4.0

Die aktuellen Inzestvorwürfe in Frankreich gegen einen einflussreichen Verfassungsrechtler lösen erneut eine Debatte über die breite Akzeptanz von Pädophilie in elitären 68er-Kreisen aus. Gleichzeitig wird der Skandal aber vor allem dafür genutzt, die Institution Familie an den Pranger zu stellen.

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Seit Anfang Januar ist Frankreich von einem Pädophilie-Skandal erschüttert. Ausgelöst wurde dieser durch die Veröffentlichung des Buches La familia grande der Juristin Camille Kouchner, Tochter des Mitgründers von Ärzte ohne Grenzen und früheren Außenministers Bernard Kouchner. Darin schildert sie den sexuellen Missbrauch ihres Zwillingsbruders durch den Stiefvater Olivier Duhamel vor 30 Jahren. Duhamel, einer der mächtigsten Männer in Frankreich, verkörpert wie kaum ein anderer die sog. Kaviar-Linke („gauche caviar“), die die Barrikaden im Mai 1968 gegen Macht, Geld und zahlreiche Posten in Gesellschaft und Politik ausgetauscht hat. Bis zu seinem Rücktritt aufgrund der Beschuldigungen war er Leiter der einflussreichen Stiftung von Sciences Po, Präsident des exklusiven und geheimen Pariser Clubs Le Siècle – zu dem nach Enthüllungen der französischen Presse 11 Minister der Regierung Macron gehören. Er saß für die Sozialisten im Europa-Parlament und war im Laufe seiner Karriere Professor an der Sorbonne, angesehener Verfassungsrechtler sowie Berater von Macron.

Sexuelle Befreiung

Olivier Duhamel (Foto: Cdeniaud. LizenzCC BY-SA 4.0)

Im Hause Duhamel wurden die Prinzipien der sexuellen Revolution konsequent umgesetzt: Erwachsene liefen nackt herum, die Gäste, darunter viele Persönlichkeiten der linken Intelligenzija, konnten an den Wänden Bilder der sich entwickelnden Brüste von Duhamels Töchtern sehen. Die Mutter erklärte sich besorgt darüber, dass die 12-jährige Camille noch nicht defloriert worden sei. In diesem übersexualisierten Klima, wo die einzig verbliebende Moral vom 68er-Ruf „jouir sans entraves“ („Genießen ohne Hemmnisse“) vertrieben wurde, konnte der sexuelle Missbrauch ungehindert stattfinden und Unterschlupf hinter einer Mauer des Schweigens finden.

Seit der Veröffentlichung kursiert auf Twitter der Hashtag #MeTooInceste, unter dem tausende Opfer von Inzest an die Öffentlichkeit gehen. Mit den tragischen Erzählungen flammte eine Diskussion wieder auf, die bereits vor einem Jahr wegen des Falls Matzneff durch das Land ging. Der französische Schriftsteller Gabriel Matzneff beschrieb über Jahrzehnte in seinen vielgepriesenen Büchern unverhohlen seine sexuellen Abenteuer mit minderjährigen Mädchen und Jungen. Anfang 2020 brachte ihn ebenfalls ein Buch eines seiner Opfer in Bedrängnis. Schockierend ist nicht nur das Ausmaß an inzestuösen oder pädophilen Fällen, die nun ans Licht kommen, sondern auch das Schweigen der Elite, die laut Camille Kouchner zu großen Teilen seit Jahren von Duhamels Taten wusste und sich doch mehr als gerne in dessen Gesellschaft zeigte.

Das dunkle Erbe der 68er

Wie aber konnte Duhamel trotz seiner Umtriebe auf so viel Gegenliebe stoßen? Pädophilie und Inzest sind zwar Phänomene, die in allen Gesellschaftsschichten vorkommen, doch die Verharmlosung oder Akzeptanz der Pädophilie ist etwas, das in Frankreich fast ausschließlich in elitären Kreisen weite Verbreitung fand. Das Tabu der Pädophilie wurde, wie der Philosoph Luc Ferry zeigt, von großen Teilen der 68er-Bewegung laut und öffentlich provozierend infrage gestellt oder gar ausdrücklich für überholt erklärt. Auch hierzulande fehlt es nicht an prominenten Beispielen, man denke nur an Daniel Cohn-Bendit oder Helmut Kentler. „Da das Kind nicht das Privateigentum der Eltern sei (kleiner Verweis auf Marx)“, so Luc Ferry, „habe jeder Erwachsene das Recht oder sogar die Pflicht, so plädierten sie, es der Familie wegzunehmen, um diese Sexualität zu erwecken, die von der Bourgeoisie vertuscht werde.“

Damals wurde das Motto „interdit d‘interdire“ („es ist verboten, zu verbieten“) als Waffe gegen die tradierte Gesellschaftsordnung gezückt. Die oppressive Moral der Bourgeoisie musste vor einer grenzenlosen sexuellen Freiheit weichen. Renommierte Denker erkannten dem Kind das Recht auf Sexualität zu, auch mit Erwachsenen. 1977 unterzeichneten 80 der führenden Intellektuellen Frankreichs eine Petition für die Streichung der Altersgrenze bei vermeintlich einvernehmlichen sexuellen Kontakten zwischen Kindern und Erwachsenen mit ihren namhaften Unterschriften: Michel Foucault, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Roland Barthes, Louis Althusser, André Glucksmann, Gabriel Matzneff etc. Zeitungen wie Le Monde und Libération, Fernsehsendungen und Organisationen wie die FHAR (Homosexuelle Front für revolutionäre Aktion) boten über Jahre Pädophilenaktivisten und -verharmlosern eine offene Bühne an. Pädophilie wurde damit salonfähig gemacht, während das lebenslange Leid der Kinder und Jugendlichen völlig aus dem Blick geriet.

Ist die Familie das Problem?

Die öffentliche Debatte wird allerdings nicht so sehr vom Erbe der 68er, sondern von den immer neuen Zeugnissen von Opfern und den grauenvollen Statistiken zum Thema Inzest dominiert. In einer repräsentativen Studie vom November 2020 mit ca. 1.000 Teilnehmern gaben 10% der Befragten an, Opfer sexuellen Missbrauchs in der Familie geworden zu sein. Ist die Familie also ein Ort des Schreckens, wo Kinder immanent gefährdet sind? Diesen Eindruck gewinnt man zumindest, wenn man den Hashtag #MeTooInceste und manche Berichte und Analysen in der französischen Presse verfolgt, die die „patriarchalischen“ Gesellschaftsstrukturen für den massenhaften Missbrauch verantwortlich machen.

Eine Studie aus dem Jahr 2015, an welcher mehr als 27.000 Franzosen teilgenommen haben, zeigt ein etwas anderes Bild. Damals gaben 8,3% der Frauen und 1,9% der Männern an, als Minderjährige missbraucht worden zu sein. Bei etwa der Hälfte der Fälle (jeweils 4,6% und 0,7%) fand der Übergriff im nächsten Umfeld statt, das Opfer kannte den Täter gut und vertraute ihm. Als Inzest können davon 2,5% der Frauen und 0,3% der Männer klassifiziert werden. Allerdings werden sexuelle Übergriffe durch Stiefväter und –mütter nicht separat erfasst, obwohl es statistisch erwiesen ist, dass Stiefväter viel häufiger Kinder sexuell missbrauchen als biologische Väter.

Starke Familien sind die Lösung

Jeder einzelne Fall von Inzest ist ein Fall zu viel. Der große Unterschied zwischen den zwei Studien ruft jedoch zur Vorsicht in der Evaluierung des Problems auf, damit nicht alle Familien gleich unter Generalverdacht gestellt werden. Dies umso mehr, da mehrere Studien weltweit gezeigt haben, dass intakte Familien den besten Schutz für Kinder darstellen, was in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion oft vergessen wird. Neben einer besseren Prävention liegt also die Lösung nicht darin, die Familie generell auf den Prüfstand zu stellen. Ganz im Gegenteil – starke Familien können die Lösung sein.

Im Fall Duhamel ist dies noch deutlicher zu sehen, denn streng genommen geht es dabei überhaupt nicht um Inzest, da der Täter der Stiefvater des Opfers war. Wie die Sexologin Thérèse Hadot betont, zeige La familia grande, dass das Problem nicht in patriarchalischen Familienstrukturen liege, sondern in der fehlenden starken Vaterfigur: „Die grausame Abwesenheit des Vaters, eines Mannes, der Sicherheit gibt, der schützt und das Gesetz bekräftigt – was erlaubt und was verboten ist. Einer, der Mutter und Kindern ermöglicht, (…) aus der Unordnung herauszukommen. (…) Wo ist ein solcher Mann? Ihn brauchen wir mehr denn je.“