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Die Corona-Pandemie hat deutlich spürbare Auswirkungen auf fast alle Bereiche unseres Alltagslebens – vor allem natürlich auf die Gesundheit der Menschen und die staatlichen Gesundheitssysteme überall auf der Welt. Das neue Coronavirus mit all den Einschränkungen und Veränderungen im Leben, die es mit sich gebracht hat, wirkt sich jedoch auch tief auf das soziale und zivile Leben der Bürger aus und verändert es. Gesundheit, zwischenmenschliche Beziehungen, Familienleben, Alltagsleben – alles Aspekte, die durch die neue Krankheit gefährdet sind und über die sprach Pro Vita & Famiglia mit dem Bioethik-Experten Tommaso Scandroglio.
PVF: Die durch das Coronavirus entstandene Krisensituation stellt nicht nur das Gesundheitssystem auf eine harte Probe, sondern auch den zwischenmenschlichen Umgang und unsere Alltagsgewohnheiten. Welche Folgen treffen uns und unsere Beziehungen am härtesten?
Scandroglio: Um diese Frage zu beantworten, kommt mir eine aktuelle Studie „Radar – Nichts wird sein wie vorher. Covid-Störung“ zu Hilfe, die der Verein SWG vor kurzem durchgeführt hat. Diese hat die Stimmung und das soziale Leben von 400 Menschen untersucht, die am 28. März, d.h. mitten in der Corona-Krise, befragt wurden. Ein Fünftel gibt an, die innere Ruhe bewahren und diese auch anderen vermitteln zu können. Die meisten Befragten machen sich mehr Sorgen darüber, dass ihre Angehörigen krank werden, weniger aber, selbst infiziert zu werden. Hinsichtlich der Folgen dieses erzwungenen Zusammenlebens mit Familienangehörigen sagen nur 14%, dass es jetzt Streitigkeiten zu Hause gibt – allerdings mit steigender Tendenz. Des Weiteren zeigt sich, dass 37% der Menschen es kaum abwarten kann, das gewohnte Alltagsleben wieder aufnehmen zu können; andererseits habe ca. ein Viertel der Befragten durch die Quarantäne neue Beschäftigungen entdeckt. Man kann also der jetzigen Krisensituation durchaus positive Aspekte abgewinnen.
Und wie hart trifft das Coronavirus die Gesellschaft im Allgemeinen? Welche Folgen gab es bis jetzt und welche werden sich noch zeigen?
Man muss kein Ökonom sein, um erkennen zu können, dass die Krise des Gesundheitswesens bald von einer ebenso schweren Wirtschaftskrise begleitet werden wird, wie es sie vielleicht seit der Nachkriegszeit noch nicht gab. Wenn die finanzielle Struktur eines Landes nachlässt, leidet damit auch das Sozialgefüge und die Folgen sind mehr Armut, Arbeitslosigkeit und Spannungen in der Gesellschaft. Es stellt sich hier die Frage, ob die glaubwürdigen Solidaritätsbekundungen, die durch diese Notsituation so zahlreich entstanden sind, auch nach dem Ende der Gesundheitskrise fortgesetzt werden. Im Rahmen der eben erwähnten Studie gibt ein Viertel der Befragten an, „sich selber und die Menschen im meinen nächsten Umkreis während der Krise besser kennen zu lernen“. Nun muss aber diese lobenswerte, echte Erkenntnis über sich selbst und seine Nächsten zu einer tiefen Verinnerlichung einer authentischen Werteordnung werden, die in der Lage ist, Menschen tatsächlich zu verändern. Wenn das nicht der Fall ist, wird diese fruchtbare Einsamkeit nur eine wichtige Episode unter vielen bleiben, die uns im Laufe der Jahre begegnen, die aber unser Leben an der Wurzel nicht verwandeln können.
Eine wichtige Rolle spielt die Familie, besonders weil alle zu Hause isoliert sein müssen. Was kann die Familie in dieser Krise beitragen?
Prüfungen können sich auf Menschen im positiven sowie auch im negativen Sinne auswirken – das wissen wir ja. Das gilt auch für Familien. Die aktuelle Krise kann einerseits das Beste im Familienleben zum Vorschein bringen, wie Teamarbeit, Hilfsbereitschaft, Geduld, persönliche Opferbereitschaft, Spiel, Freude u.v.m. Väter und Mütter werden wieder zu Erziehern, Lehrern, Richtern (z.B. wenn sie mit der nicht einfachen Herausforderung konfrontiert sind, einen Streit zwischen Geschwistern zu schlichten), Organisatoren des Familienalltags. Andererseits könnte das Coronavirus Zank, Groll, Neid, Verantwortungslosigkeit auslösen und verborgene Risse innerhalb der Familie an den Tag bringen. Im Endeffekt stellt das Coronavirus die Freiheit der Familien auf die Probe. In dieser Hinsicht werden wir alle sozusagen durch das Virus getestet. Unter allen möglichen Überlegungen über die Rolle der Familie in der Coronazeit lässt sich aber eine besondere machen. Unter allen gesellschaftlichen Akteuren in dieser Notsituation – Ärzten, freiwilligen Helfern, Unternehmern – ragt die Familie heraus. Es ist die Familie, die die Gesellschaft zusammenhält, auch wenn wir voneinander erst mal getrennt sein müssen. Die Familie festigt die Gesellschaft, weil sie die grundlegenden zwischenmenschlichen Beziehungen festigt, nämlich die familiären Beziehungen. Sie kann aber auch angesichts ihrer Bedeutung zur Auflösung des Sozialgefüges eines ganzen Landes führen, wenn sich darin eine zerstörerische Dynamik entzündet. Im positiven wie im negativen Sinne haben wir nun den Beweis, dass die Familie die Keimzelle der Gesellschaft ist.
Die Familie ist nicht nur der zentrale Protagonist dieser Krisensituation, sie könnte auch die am schwersten betroffene Institution sein. Welchen Gefahren und Risiken ist die Familie in Italien jetzt aufgrund der Corona-Krise ausgesetzt?
Man schaut sofort in die eigene Brieftasche. Ich erinnere noch einmal an einige Ergebnisse der bereits erwähnten Studie. 61% der Befragten hält es für wahrscheinlich, dass sie binnen 30 Tagen auf ihre Ersparnisse zurückgreifen werden müssen (37% hält es für sehr wahrscheinlich). 56% gibt an, auf unnötige Ausgaben bereits gänzlich verzichtet oder diese zumindest eingeschränkt zu haben. Ein Drittel glaubt, dass sie selber oder ein Verwandter die Arbeitsstelle verlieren wird – und die Hälfte hält es für möglich. Es kann aber auch gut sein, dass wir durch die finanziellen Schwierigkeiten, die uns über mehrere Monate (vielleicht sogar Jahre) begleiten werden, begreifen, dass für das Leben nicht nur eine ökonomische Stütze, sondern auch ein moralischer Rückhalt erstrebenswert ist. Anders ausgedrückt: Falls die Geldmittel abnehmen, sollten wir vermehrt Wert auf die Familie, auf Freundschaft und hoffentlich auch auf Gott legen: „Sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören“. Vielleicht ist das die zentrale Erkenntnis, die wir durch das Coronavirus gewinnen?
Das Interview führte Salvatore Tropea. Es erschien zuerst bei Pro Vita & Famiglia und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Organisation in deutscher Übersetzung wiedergegeben.