Bindungstheorie als Ideologie weißer Nazi-Hausfrauen?

Die Zeit hat in dem Artikel „Attachment Parenting: So wird Erziehung zur Ersatzideologie“ (13. Juni) Eltern, die auf eine bedürfnisorientierte Erziehung achten, unter Extremismusverdacht gestellt. Der Teaser lautet: „Stillen, Familienbett, Kitaskepsis: Bindungsorientiertes Erziehen gilt als sanft und achtsam, ist aber auch westlich und elitär. Das spricht zunehmend Rechtsextreme an.“ Dieser Tenor zieht sich durch den gesamten Artikel, der sich in der Druckversion über zehn Seiten erstreckt.

Die Autorin Lisa Kreuzmann beschreibt die Entwicklung und Verbreitung des bindungsorientierten Erziehungsstils, und dies durchweg diffamierend. Die Bindungstheorie hätte in „rechtskonservativen Kreisen“ neue Anhänger gefunden. So würden etwa die AfD, das Bündnis Rettet die Familie, die Stiftung für Familienwerte oder DemoFürAlle die Erkenntnisse der Bindungsforschung mit familienpolitischen Zielen verknüpfen. Ihr Ziel, „die traditionelle Kleinfamilie zu erhalten, Mutterschaft aufzuwerten sowie eine Gender-Ideologie zu bekämpfen“ würden sie geschickt „hinter flauschigen Begriffen wie „liebevoll“, „artgerecht“ oder „sicher gebunden““ verstecken. Jene Wissenschaftler, auf die sich diese „Lobbyverbände“ öfter berufen, gelten laut Kreuzmann nun als „umstritten“.

Ihrerseits beruft sich Kreuzmann völlig unkritisch auf eine schwedische Studie, die deutschsprachige Onlinedebatten innerhalb der bindungsorientierten Elternszene untersucht hat. Diese bestehe vor allem aus weißen Frauen aus der Mittelschicht, die aushandeln, was Mutterschaft bedeutet, fasst sie die Untersuchung zusammen, und merkt an: Darunter seien „nur wenige Mütter, die sich als Feministinnen oder Antirassistinnen verstehen“. Aber viele seien darunter, für die „Mutterschaft der eigenen Selbstheilung im Sinne der esoterischen New-Age-Bewegung“ diene, und die laut Studie in Teilen neurechte Verschwörungserzählungen verbreiten würden. Frauen, die die traditionelle Mutterrolle hochhielten, würden die Rhetorik von der sicheren Bindung heranziehen, um konservative und oftmals mütterzentrierte Politik zu machen, die in Teilen von einem biologistischen Familienbild geprägt sei.

Als „seriöse Anhängerinnen der Bindungsorientierung“ gelten Kreuzmann drei Journalistinnen, die sich darüber echauffieren, dass „erzkonservative Gruppen“ sich unter die Elternbloggerinnen auf Instagram mischen würden. Die Journalistin Nora Imlau etwa attestiert der „bindungsorientierten Elternszene“ eine Unterwanderung von rechts. Die Blase habe ein „Nazi-Problem“.

Mütterverherrlichende Glaubenssätze“

„Die neuen Rechten erziehen ihre Kinder längst nicht mehr mit Härte und Drill, sondern präsentieren sich als sanfte und zugewandte Eltern,“ schreibt Imlau. Für Kreuzmann eine Steilvorlage. Sie schreibt: „Viele Eltern fühlen sich dadurch verunsichert, manche verunglimpft. Man sei ja wohl kein Nazi, wenn man sein Kind lange stillen oder als Frau zu Hause bei den Kindern bleiben wolle? Natürlich nicht. Aber was bedeutet schon natürlich? Darum geht’s.“

Die Katze ist aus dem Sack, die Bindungstheorie ist eingeordnet als Ideologie weißer Nazi-Hausfrauen:

Die Bindungsorientierung ist von Anfang an mehr als ein feinfühliger Erziehungsstil achtsamer Eltern gewesen. Mit ihrer Rückbesinnung auf vermeintlich natürliche Instinkte von Müttern bietet sie ein offenes Tor für mütterverherrlichende Glaubenssätze.

Lisa Kreuzmann

Im Milieu der rechten Familiennetzwerker, der „christlichen Fundamentalisten und Abtreibungsgegner“ verkomme die Frage nach der sicheren Bindung zur Glaubensfrage, zu einer Ersatzideologie mit wissenschaftlichem Anstrich. Unerwähnt lässt Kreuzmann die moderne Hirnforschung und medizinische Studien mit in Krippen betreuten Kleinkindern, die die wesentlichen Aussagen der Bindungstheorie bestätigen: Ein Baby braucht in den ersten Jahren die enge, zeitintensive Bindung an seine Mutter, also zu der Person, deren Stimme und Herzschlag es vor der Geburt schon kennengelernt hat.

Weiße Hausfrauen unter Nazi-Verdacht

Das Attribut „seriös“ erhalten hingegen jene Bindungsforscher, die auffällig oft betonen, dass statt der Mutter auch andere Betreuungspersonen möglich sind, wie zum Beispiel eine Tagesmutter. Doch Kreuzmann verzichtet darauf, tiefer einzutauchen in die Bindungsforschung und zwischen der optimalen Primärbindung an die leibliche Mutter und Notlösungen zu unterscheiden. Der von ihr kritisierte, in konservativen Kreisen manchmal etwas einseitige Blick auf die wichtige Rolle der Mutter für ein Kind rührt auch daher, dass die veröffentlichte Meinung über Mütter eher von Aversionen als von Verherrlichung geprägt ist. Der vorliegende Artikel ist da ein gutes Beispiel.

In die selbe Kerbe schlägt auch die Kultur- und Entwicklungspsychologin Heidi Keller: Die Annahmen der Bindungstheorie seien „klassisch konservativ und exklusiv“. Denn „obwohl theoretisch mehrere Bindungspersonen möglich sind, läuft es in der Praxis doch auf eine Mutterideologie hinaus“, sagt Keller. Die Bindungstheorie sei westlich und elitär und richte sich vor allem an Kleinfamilien aus der weißen Mittelschicht.

Die Erziehungswissenschaftlerin und Rechtsextremismusforscherin Heike Radvan darf ergänzen: „Wenn andere Familien und Lebensweisen wie zum Beispiel geflüchtete oder queere Familien abgewertet werden, ist ein rechtes, rassistisches Weltbild sehr wahrscheinlich.“ Hinter konservativen Eltern, die etwa das Tragetuch dem Kinderwagen vorziehen, wittert Radvan eine politische Bewegung:

Rechte Eltern haben verstanden, dass sie ihre Kinder mit Härte und Drill nicht zu Persönlichkeiten erziehen, die sie etwa zu erfolgreichen Kadern für ihre politischen Ziele einsetzen können.

Heike Radvan

An der Realität junger Familien vorbei

Ob Mütter aus der linken Blase nun mit Fleiß auf Flaschennahrung, wenig Kuscheln und Krippe schwören? Spannende Fragen. Doch es tut Not, das ganze Thema zum Ende einmal zu entpolitisieren. Es ist eine typisch linke Marotte, das Private, sei es nun das Beziehungsleben, das Familienmodell oder die Kindererziehung, mit politischen Zielen zu verknüpfen. Den meisten Eltern liegt es komplett fern, die Beziehung zu ihren Kindern als politisches Statement zu inszenieren. Sie träumen auch nicht davon, ihren Nachwuchs in irgendwelchen Nazi-Kaderschmiden unterzubringen. Sie träumen davon, dass ihre Kinder gut ins Leben starten und dass sie selbst irgendwann einmal miterleben dürfen, wie ihre Kinder selbst wieder Kinder bekommen.

Eltern lieben ihre Kinder. So einfach ist das. Und deswegen ist Eltern-Werden mit der intensivste Lernprozess, den das Leben bereithält. Mütter saugen alles auf, was sie für sinnvoll erachten. Wenn also die Bindungstheorie unter jungen Müttern und Vätern großen Anklang findet, dann hat das nichts mit Ideologie zu tun, sondern damit, dass immer mehr Eltern das aufgreifen, was sich als gut und richtig für kleine Kinder herausgestellt hat. Sie lassen sich nicht beirren, wenn man ihr Familienmodell „biologistisch“ nennt, aber sie hinterfragen zunehmend, warum die Politik mit ihrem Krippenausbau ein Familienmodell finanziell begünstigt, das ihrem Lebensentwurf zuwider läuft.

Übrigens werden heutzutage beim Bonding nach der Geburt auch Väter mit einbezogen, Papas mit Tragetuch sind keine Seltenheit mehr, und die Rolle der Väter in der Erziehung ist ein Thema, das gerade einen populärwissenschaftlichen Hype erfährt. Das feministische Geunke von „mütterverherrlichenden Glaubenssätzen“ geht an der Realität junger Familien vorbei. Intuitiv entfaltet sich die natürliche Primärbindung zwischen Mutter und Kind, meist ohne dass die Mütter ihren Milcheinschuss politisch hinterfragen.