TikTok: Chinesischer Einfluss in der westlichen Jugendkultur

TikTok, die Video-Plattform aus China, erreicht weltweit rund 1,59 Milliarden Nutzer im Monat, vor allem Teeanger. Die durch Tanzvideos groß gewordene Seite der chinesischen Firma ByteDance rangiert auf Platz vier der beliebtesten sozialen Netzwerke. Doch ausgerechnet in China ist TikTok online nicht aufrufbar, also quasi verboten. Dafür gibt es für das junge Publikum in China ebenfalls von ByteDance einen TikTok-Klon, der Douyin heißt. Doch die Inhalte sind völlig andere. Douyin ist, um einmal diese Phrase zu bemühen, pädagogisch wertvoll. Eine Beschreibung, die auf TikTok nicht im Entferntesten zutrifft. Woher kommen diese Unterschiede?

TikTok macht süchtig. Das sagen nicht nur Neurowissenschaftler, Psychologen und Tech-Insider über das Endlos-Scrollen und den personalisierten Algorithmus, sondern das beobachten auch die jungen Nutzer selbst und weltweit betrachten Politiker die Entwicklung mit Sorge. Wie genau der Algorithmus von TikTok funktioniert und warum die Verweildauer dort viel höher ist als beispielsweise beim direkten Meta-Konkurrenten Instagram, weiß nur die Firma selbst. Es heißt, TikTok sei besonders gut darin, die meist sehr jungen Nutzer über Stunden mit kurzen Videoclips zu fesseln. Mit jedem Wischen zum nächsten Kurzvideo scheinen die Inhalte immer besser auf das jeweilige Gehirn und dessen Belohnungszentrum zugeschnitten zu sein.

Als ob das nicht schon problematisch genug wäre, sind die Videos oft stark sexualisiert. Knallenge, bauchfreie Tops, kurze Röcke und Hotpants, die kaum über den Po reichen – Outfits, die in Schulen immer mal wieder verboten sind, fluten TikTok seit vielen Jahren. Die virtuelle Glitzerwelt aus Tanzvideos, Lipsyncs (Lippenbewegungen zu Musik) und Beautyfiltern fasziniert Mädchen im Teenageralter – und alle, die von hübschen, oder hübsch gefilterten Mädchen fasziniert sind, die in aufreizenden Klamotten vor der Kamera tanzen, posieren, singen oder vorm Ringlicht sitzend aus ihrem Leben plaudern.

Sexualisierte Wortspiele und Sketche

Das menschliche Gehirn, das männliche wie das weibliche, scheint genau in diese sexualisierte Richtung zu driften, wenn der TikTok-Algorithmus lange genug Daten zu den Nutzervorlieben sammeln kann. Gerade junge Mädchen lernen schnell, für welche Aufmachung sie Bewunderung erhalten. Studenten der TU Dortmund haben für ein Experiment 40 TikTok-Profile angelegt und insgesamt 3.000 Videos analysiert. ZDFheute hat das Projekt begleitet:

„Schatz, willst du an meiner Muschel lecken?“ Was sehen Kinder eigentlich auf Tiktok? Ein Experiment

Die fiktiven 13-Jährigen melden sich neu an – und der Algorithmus klopft ab, was ihnen gefallen könnte. „Schon in diesen ersten Minuten sieht die 13-Jährige Videos, die sexuelle Anspielungen enthalten oder intime Aspekte thematisieren“, heißt es in der Zusammenfassung. Und weiter: „Nach der Hashtag-Suche sieht Kim vermehrt Videos aus den Bereichen #fashion, #urlaub und #dance. Trotzdem sieht sie weiter Videos, die nichts mit diesen Hashtags zu tun haben; Videos wie dieses, die sexualisierte Wortspiele oder Sketche zeigen.“

Zwar habe TikTok in jüngster Zeit reagiert, und dafür gesorgt, dass auch verfremdete Begriffe für Sex, wie etwa #s3x und #seggs, für 13-Jährige keine Ergebnisse mehr anzeigt. Doch Videos, die die Kategorie „Sex sells“ erfüllen, werden den Nutzern immer wieder zugespielt, auch wenn ihr primäres Interesse Kickboxen oder Dressurreiten ist. Präsentiert der Algorithmus solche Videos seinen jungen Nutzern auf gut Glück? Etwa weil ein Video gerade viral geht, und wenn es Tausenden gefällt, dann sicher auch der 13-Jährigen, die bisher vor allem bei Pferde- und Tanzvideos hängen geblieben ist? Oder steckt mehr dahinter, dass Videos mit sexuellen Bildern und Anspielungen die Runde machen?

TikTok gibt’s überall – nur nicht in China

Grundsätzlich gilt: Ein Bühne ist nicht dafür verantwortlich, was auf ihr gezeigt wird. Das heißt, China regelt nicht direkt, dass sich Millionen junger Mädchen extrem sexualisiert inszenieren und somit noch jüngeren Mädchen zeigen, wie der Hase läuft, wenn man Aufmerksamkeit, Follower und Reichweite haben will. Videos der Kategorie „Sex sells“ sind naturgemäß oft so anziehend, dass auch eine rein organische Verbreitung weite Kreise zieht. Allerdings kann der Algorithmus in diesem Spiel auch gewaltig mitmischen und sexualisierte Inhalte stärker verbreiten und gezielt zuspielen. TikTok kann jenseits der sozialen Eigendynamik selbst Trends setzen und Nachahmung provozieren. Wie die Rechenmaschine belohnt, auswählt, verbreitet, zuspielt und reguliert, weiß nur ein sehr kleiner Kreis um Zhang Yiming und dessen Firma Bytedance.

Der junge chinesische Unternehmer Yiming „brachte Tiktok 2016 auf den Markt. Überall auf der Welt. Ausser in China“, analysierte ein Artikel des Schweizer Magazins Blick: Gefahr Tiktok – will uns China mit dieser App verdummen?

Ausgerechnet im Heimatland von Bytedance ist Tiktok bis heute nicht verfügbar. Die Kommunistische Partei rund um Chinas Führer Xi Jinping (69) hat die App verboten. Stattdessen brachte Unternehmer Yiming die App Douyin auf den chinesischen Markt. Ein Tiktok-Klon – nur mit anderen Inhalten. 

In China werden die jungen Leute nicht mit sexy Tanzvideo überflutet. Stattdessen stehen dort eher wissenschaftliche Disziplinen und Bildungsinhalte im Fokus. TikTok bzw. Douyin gleicht in China eher einer Lernplattform, die auch strenger moderiert wird, während im Westen Trends aus dem Bereich Unterhaltung anscheinend stärker gepusht werden. So zumindest der Eindruck von Deutschen, die seit vielen Jahren in China leben. Also Douyin für den eigenen Nachwuchs und Massenverblödung via TikTok für den Westen?

Wir fördern die Sichtbarkeit einiger Videos“

Nach außen gibt sich das Deutsche TikTok den Anschein, mit mehreren gezielten Kampagnen „Influencer im Westen zu seriöseren Inhalten zu animieren“, wie der Blick-Artikel weiter berichtet. Eine Sprecherin für das deutschsprachige TikTok versichert:

Wir haben bislang nicht mit der chinesischen Regierung kooperiert und auch keine Daten zur Verfügung gestellt oder geteilt – und würden das auch dann nicht tun, wenn wir danach gefragt würden.

Anders sieht das Robert Wang, stellvertretender US-Botschafter in China unter Ex-Präsident Barack Obama, der gegenüber Blick betont:

Ich kann ihnen von meiner über 30-jährigen Erfahrung in China versichern: Es gibt keine Zweifel, dass dort jedes Unternehmen alles tut, was die Regierung befiehlt. Einschließlich Bytedance – die Herausgeberin von Tiktok. Es gibt in China keine unabhängigen Konzerne, wie wir es kennen.

Was konkret die chinesische Regierung befiehlt, bleibt Spekulation. Doch es gibt Hinweise, die auf gezielte Beeinflussung hindeuten. Einer davon ist die sogenannte „Feuertaste“. Enthüllungen des US-Magazins Forbes zufolge sollen Mitarbeiter von Bytedance ausgewählte Videos manuell verbreiten können. Betätigen sie die „Feuertaste“, wird der Algorithmus übergangen, und das betreffende Video deutlich mehr Menschen gezielt angezeigt. Blick zufolge, habe sich Forbes auf mehrere interne Quellen und Dokumente gestützt.

Die TikTok-Sprecherin gibt immerhin zu: „Wir fördern die Sichtbarkeit einiger Videos, um das Angebot an Inhalten zu diversifizieren und der Tiktok-Community prominente und aufstrebende Künstler vorzustellen.“

Alles kann in China eingesehen werden“

Welche Inhalte als förderungswürdig gelten und am ohnehin schon „westlichen“ Algorithmus extra noch vorbeigeschoben werden, liegt im Auge des chinesischen Betrachters. Und der will zudem auch alles wissen über die vielen Millionen jungen Nutzer. So konnte Buzzfeed bereits im Jahr 2022 die TikTok-Behauptung widerlegen, dass sämtliche Daten von amerikanischen und europäischen Nutzern nur in Amerika und Singapur gespeichert würden. Laut Audioaufzeichnung eines geleakten Gesprächs soll ein TikTok-Mitarbeiter gesagt haben: „Alles kann in China eingesehen werden.“

In den USA ist TikTok, das dort von 170 Millionen Menschen genutzt wird, höchst umstritten, und die Zukunft der Plattform ungewiss. Präsident Donald Trump will ein Verbot der Plattform oder einen „Deal“, der den Verkauf von „TikTok America“ an ein US-Unternehmen vorsieht. Die Begründung: Datenmissbrauch, Spionageverdacht und Beeinflussung der öffentlichen Meinung in den USA. Verblödung, Sexualisierung und Demoralisierung werden nicht genannt. Das ließe sich auch nicht so einfach kommunizieren. Schließlich sind es hiesige Teenager, die die Inhalte liefern. Und ob China gezielt für die Verbreitung entsprechender Videos sorgt, lässt sich nicht nachweisen.