Verwaltungsrechtlerin Uta Hildebrandt: „Von Geburt an sind Kinder somit eigenständige Grundrechtsträger.“

„Der Vorrang des Kindeswohls bei staatlichen Entscheidungen ist rechtlich gesichert“, schreibt die Verwaltungsrechtlerin Prof. Dr. Uta Hildebrandt in ihrer Stellungnahme für den Bundestag von 2013.

Prof. Dr. Uta Hildebrandt lehrt Staats- und Europarecht sowie Allgemeines Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Köln. Im Zuge der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 26. Juni 2013 zur Frage, ob „Kinderrechte“ ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen, veröffentlichte Uta Hildebrandt eine juristische Stellungnahme. Dabei arbeitete sie heraus, „dass die Rechtsstellung der Kinder durch eigene Grundrechte nicht verbessert wird. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Verfassung Schaden nimmt durch Regelungen, die große Erwartungen wecken, rechtlich und tatsächlich aber keine Veränderungen nach sich ziehen“ (Seite 2).

Prof. Hildebrandt erläutert zunächst, dass jedes Kind von Geburt an vollwertiger und eigenständiger Träger aller Grundrechte ist und entgegen mancher politischer Behauptungen durch Art. 6 Abs. 2 GG nicht eingeschränkt wird, sondern im Gegenteil dadurch gegenüber Eltern und Staat eigene Rechte geltend machen kann (Seite 2ff):

Soweit als „Kinderrecht“ ein explizites Grundrecht der Kinder bzw. der Kinder und der Jugendlichen auf freie Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit vorgeschlagen wird, so besteht dafür nach geltender Verfassungslage kein Bedarf; es wäre schlicht redundant bzw. zöge mehr Probleme nach sich, als es Vorteile bietet.

Darüber hinaus erklärt die Verwaltungsrechtlerin, dass das Kindeswohl bereits bei allen staatlichen und elterlichen Entscheidungen berücksichtigt werden muss (Seite 6):

Das Elternrecht ist ein Recht im Interesse des Kin-des und den Eltern nur um des Kindes willen verbürgt. Im Zentrum des elterlichen Erziehungsrechtes steht das Kind; sein Wohl muss maßgebliche Richtschnur für das elterliche Handeln sein. Werden diese dem verfassungsrechtlichen Anspruch nicht gerecht, übt die staatliche Gemeinschaft kontrollierend, notfalls intervenierend in Wahrnehmung ihres Wächteramtes ihre „treuhänderische Reserveverantwortung“ aus – ebenfalls ausschließlich dem Wohle des Kindes verpflichtet. In der verfassungsrechtlichen Dreieckskonstruktion, die Art. 6 Abs. 2 GG zugrunde liegt, stehen das Kind und sein Wohl an der Spitze; die anderen Beteiligten müssen ihre Rechte und Pflichten daran ausrichten.

Ebenso betont sie an anderer Stelle (Seite 10):

Das Kindeswohl ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die „zentrale Leitidee“ des Art. 6 Abs. 2 GG, die staatliches, auch gesetzgeberisches Handeln in Wahrnehmung von Wächteramt und Schutzverpflichtungen anleitet und bestimmt. Denn das Wächteramt des Staates resultiert letztlich aus dem Schutzbedürfnis des Kindes, das wiederum aus seiner Menschenwürde und seinem Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit fließt.

Auch im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des Elternrechts warnt Hildebrandt davor, ins Grundgesetz die vorgeschlagene Formulierung aufzunehmen, der Staat müsse die „bestmögliche Förderung“ von Kindern sicherstellen (Seite 12):

Denn durch eine solche Verpflichtung verschöbe sich das bislang sorgfältig austarierte Verhältnis zwischen Kindern, Eltern und Staat, und zwar in Richtung der staatlichen Eingriffsrechte und -pflichten. Kinder würden gegen ihre Eltern in Stellung gebracht, und das Primat der elterlichen Erziehungsverantwortung würde zugunsten des Staates in Frage gestellt. Das staatliche Wächteramt über die Erziehungsarbeit der Eltern erhielte eine andere Qualität, wenn der Staat nicht mehr nur die Abwehr von Kindeswohlgefährdungen gewährleisten soll, sondern darüber hinaus auch noch die „bestmögliche“ Förderung der Kinder. Die Schwelle des staatlichen Eingreifens würde sehr weit nach vorne geschoben; der Staat müsste bereits dann in das Eltern-Kind-Verhältnis intervenieren, wenn die Eltern dem Kind die „bestmögliche“ Förderung versagen (…).

Die Kölner Juristin zieht daher einen eindeutigen Vergleich (Seite 14):

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben angesichts der Erfahrungen einer weitgehend „verstaatlichten“ Kindererziehung in der Diktatur des Nationalsozialismus die Rolle des Staates auf ein Wächteramt zurückgedrängt und den Eltern die primäre Verantwortung für das Wohl des Kindes übertragen – ausgehend von dem Gedanken, dass diejenigen, die einem Kind das Leben schenken, von Natur aus berufen und bereit sind, die Verantwortung für dessen Pflege und Erziehung zu übernehmen. Das Grundgesetz baut zum Wohle des Kindes vorrangig auf die Familie und verordnet dem Staat insoweit Zurückhaltung.

Prof. Uta Hildebrandt resümiert, dass es der Aufnahme eigener „Kinderrechte“ ins Grundgesetz nicht bedarf. Ihre gesamte Stellungnahme kann man hier lesen.

Die Große Koalition möchte bis Ende 2019 einen ersten Entwurf für die Aufnahme von „Kinderrechten“ ins Grundgesetz vorlegen. Dies ist nicht der erste Versuch. In den vergangenen Jahren haben zahlreiche renommierte Rechtswissenschaftler Stellungnahmen und Gutachten zu dieser Frage verfasst, die wir hier in unregelmäßigen Abständen erneut veröffentlichen und in die aktuelle Debatte einbringen möchten.