Niemand scheint das neue „Kinderrechte“-Gutachten aus dem Bundestag wirklich gelesen zu haben – am allerwenigsten Politiker und Journalisten. Denn ansonsten hätten sie einmal mehr erfahren: „Kinderrechte“ im Grundgesetz sind unnötig und gefährlich.
Die Schlagzeilen waren eindeutig: „Kinderrechte: Gutachten stellt Bundesregierung schlechtes Zeugnis aus“ (Focus), „Kinderrechte-Entwurf greift laut einem Bundestagsgutachten zu kurz“ (BR), „Bundestagsgutachten: Kinderrechte-Entwurf zu schwach“ (ZDF).
Nachdem in den letzten Monaten die Kritik an der geplanten Grundgesetzänderung zugenommen hatte, konnten „Kinderrechte“-Befürworter jetzt vermeintlich aufatmen: Ein neues Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags schien ihre Forderung nicht nur zu bestätigen, sondern sogar noch weiter zu gehen. Die Medien berichteten, der aktuelle Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums (BMJV) sei in Bezug auf Beteiligungs- und Mitspracherechte von Kindern im Vergleich mit Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention unzureichend. Klingt kompliziert? Egal, dachten sich ganz offensichtlich einige, das lässt sich schon entsprechend zurechtstutzen.
Gesagt, getan. Der Bundestagsabgeordnete Norbert Müller (Die Linke), der das Gutachten in Auftrag gegeben hatte, schlussfolgerte z.B.: „Die Bundesregierung muss jetzt dringend nacharbeiten. In der jetzigen Form ist die Grundgesetzänderung für uns so nicht zustimmungsfähig.“
Politik und Medien interpretieren Gutachten falsch
Wer das Gutachten aber vollständig liest, kommt zu einem ganz anderen Ergebnis, als vor allem die Schlagzeilen dem flüchtigen Leser vorgaukelten.
Das Gutachten vergleicht den Gesetzentwurf des Ministeriums, den der Grünen und den der Linken miteinander „im Hinblick auf die Stellung von Kindern als Rechtssubjekt sowie auf die sich ergebenden Rechtsfolgen“ (Seite 3). Tatsächlich stellen die Gutachter fest, dass der Vorschlag des BMJV „bezüglich der Beteiligungs- und Mitspracherechte der Kinder hinter den völkerrechtlichen Staatenverpflichtungen aus Art. 12 UN-KRK zurückbleibt“ (S. 12). Aber diese Aussage ist schlicht das Ergebnis eines simplen Vergleichs zweier Texte. Weder fordern die Gutachter daraufhin, den Gesetzentwurf zu verschärfen noch heißen sie damit die geplante Grundgesetzänderung überhaupt gut.
Ganz im Gegenteil weisen sie auf Basis mehrerer Urteile des Bundesverfassungsgerichts darauf hin, dass bereits heute das Kindeswohl berücksichtigt werden muss und Kinder „Rechtssubjekt und Grundrechtsträger“ sind: „Grundrechtsfähig sind alle natürlichen Personen unabhängig von ihrem Alter und ihren Fähigkeiten. Kinder und Jugendliche werden damit durch die Grundrechte geschützt“ (S. 7f). Es wird bestätigt, was wir mehrfach betont haben: Es gibt keine Schutzlücke im Grundgesetz.
Welche Gefahren drohen durch „Kinderrechte“ im Grundgesetz?
Außerdem werden im Gutachten mehrere grundsätzliche Kritikpunkte von Rechtswissenschaftlern dargestellt: Die im Grundgesetz bisher nicht vorgesehenen „Sonderfreiheitsrechte für bestimmte Personengruppen“ könnten einen „systematischen Bruch“ erzeugen und „Tür und Tor“ für weitere Forderungen dieser Art öffnen (S. 10). Zudem wird die Kritik aufgeführt, „dass bestehende Grundrechte der Kinder, z.B. die aus der Menschenwürde entwickelten grundrechtlichen Gewährleistungen, geschwächt werden könnten und der Grundrechtsschutz der Kinder gespalten würde“ (S. 10f).
Ausführlich werden mögliche „Auswirkungen auf das Verhältnis Kind-Eltern-Staat“ behandelt. Die Gutachter geben zu, es sei offen, ob die Grundgesetzänderung nicht Auswirkungen auf die Rechtsprechung bezüglich des Elternrechts haben könnte und verweisen auch auf die Warnungen der Rechtswissenschaftler Arnd Uhle, Friederike Wapler und Matthias Jestaedt (S. 11f).
Unterstützung durch zweites Gutachten
Fast zeitgleich erschien ein weiteres Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, in dem der Gesetzentwurf des BMJV auf Übereinstimmung mit vier Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention untersucht wird. Auch hier stellen die Gutachter fest, dass der Entwurf hinter mehreren Artikeln der Konvention zurückbleibt.
Das Entscheidende in diesem Gutachten sind allerdings die mehrfachen Hinweise, dass das Grundgesetz dem Kind die Grundrechte bereits zugestehe, konkret geht es um die Meinungsfreiheit und das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (S. 8f), Recht auf Leben und Entwicklung (S. 10f) sowie Nichtdiskriminierung und Gleichberechtigung (S. 12). Erneut stellt sich also die Frage, warum man überhaupt „Kinderrechte“ ins Grundgesetz aufnehmen will?
Warum werden die Gutachten ignoriert?
Wenn Kinder bereits voll umfänglich durch das Grundgesetz geschützt werden, braucht es auch keine wie auch immer formulierten „Kinderrechte“. Bei dem in den Medien völlig eindimensional wahrgenommenen Gutachten offenbart sich darüber hinaus noch einmal, vor welchen Gefahren für das Elternrecht und die Struktur des Grundgesetzes viele Juristen warnen.
In der Öffentlichkeit scheint das aber nicht angekommen zu sein. Es ist nicht das erste Mal, dass man sich in den Abgeordnetenbüros und Redaktionsstuben nicht so recht für die Inhalte von Gutachten zu interessieren scheint. Andernfalls hätte man bereits 2013 oder 2016 auf die juristischen Sachverständigen gehört, die der Aufnahme von „Kinderrechten“ ins Grundgesetz eine klare Absage erteilen.