Verfassungsrechtlerin Friederike Wapler: Grundgesetz wird „im Hinblick auf die Rechte des Kindes stark unterschätzt“.

„Die häufig geäußerte Annahme, das Grundgesetz gewährleiste Kindern keinen hinreichenden Grundrechtsschutz, trifft nicht zu“, erklärt die Verfassungsrechtlerin Prof. Dr. Friederike Wapler in ihrer Stellungnahme für den Bundestag von 2013.

Prof. Dr. Friederike Wapler ist Inhaberin des Lehrstuhls für Rechtsphilosophie und Öffentliches Recht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Das Thema „Kinderrechte“ gehört zu ihren Forschungsschwerpunkten. Neben ihrer Habilitation mit dem Titel „Kinderrechte und Kindeswohl. Eine Untersuchung zum Status des Kindes im öffentlichen Recht“ veröffentlichte sie in den vergangenen Jahren zahlreiche Gutachten zu diesem Themenkomplex. Auch für die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 26. Juni 2013 zur Frage, ob „Kinderrechte“ ins Grundgesetz aufgenommen werden sollen, wurde Friederike Wapler um eine Stellungnahme gebeten. Sie hält dabei auch eindeutig fest, dass das Grundgesetz dem Kind von Anfang an alle Grundrechte zusichert und dieses entgegen vieler gegenteiliger Behauptungen als Subjekt betrachtet. Daran ändert die Tatsache, dass Kinder nicht immer alle Rechte selbst wahrnehmen können, nichts (Seite 2f):

Dennoch erkennt das Grundgesetz in gefestigter verfassungsrechtlicher Interpretation die Subjektqualität des Kindes auch in den Bereichen an, in denen es seine Grundrechte (noch) nicht selbst wahrnehmen kann. Das Kind wird im Verfassungsrecht nicht als unreif in einem statischen Sinne verstanden, sondern als Mensch, der aus der Unmündigkeit in ein selbstbestimmtes Leben als Erwachsener hineinwächst. Seine eigene Perspektive gewinnt mit zunehmendem Lebensalter und wachsender Einsichtsfähigkeit an Gewicht.

Wapler erläutert zudem den Sinn des Verhältnisses zwischen Eltern, Kind und Staat im Grundgesetz und betont die Pflichten, die mit dem Elternrecht einhergehen (Seite 4):

Die Feinjustierung dieses Dreiecksverhältnisses ist Aufgabe des einfachen Rechts, der Rechtspraxis und der Politik und bedarf der ständigen Anpassung an veränderte Lebensverhältnisse. Auf der verfassungsrechtlichen Ebene besteht hingegen keine Notwendigkeit, die eine oder andere Seite zu stärken.

Die Mainzer Professorin sagt in der Stellungnahme, eine Grundgesetzänderung wäre rein symbolischer Natur, daher nicht unbedingt abzulehnen, aber dennoch skeptisch zu sehen (Seite 4). Die gesamte Stellungnahme von 2013 kann man hier lesen.

Für eine öffentliche Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Thema „Stärkung der Kinderrechte“ am 25. Januar 2016 verfasste Wapler erneut eine juristische Stellungnahme, in der sie erneut feststellt, dass das Grundgesetz keine Schutzlücke für Kinder aufweist, dass es keiner Änderung des Grundgesetzes für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention bedarf und dass eine solche Änderung lediglich symbolisch wäre (Seite 4f). Mit Skepsis muss man den weiteren Teil der Stellungnahme lesen, den sie der Frage der „Beteiligungsrechte“ widmet. Schließlich fordert sie, diese gesetzlich zu stärken, „bis dahin, dass die Entscheidungen des Kindes die Wünsche der Eltern überwiegen können“ (Seite 9). Die Rechtswissenschaftlerin übersieht dabei jedoch die möglichen rechtlichen und pädagogischen Folgen eines unbegrenzten und ideologisch motivierten Ausbaus sogenannter Beteiligungsrechte. Diese schwerwiegenden Folgen wurden bereits ausführlich analysiert.

Im Mai 2017 legte Friederike Wapler ein Gutachten eines weiteren Gesetzesentwurfes vor, der im vorherigen März vom Land Nordrhein-Westfalen in den Bundesrat eingebracht worden war. Das Gutachten war vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben. Das Ministerium interpretierte das Gutachten anschließend erwartungsgemäß in dem Sinne, dass es sinnvoll sei, „das Kindeswohlprinzip und das Beteiligungsrecht explizit im Grundgesetz zu verankern“. Außerdem sei der untersuchte Gesetzesentwurf eine gute Umsetzung der Kinderrechtskonvention. Dabei wird allerdings vergessen, dass die Gutachterin erneut betont, „dass das Grundgesetz im Hinblick auf die Grundrechte von Kindern keine Regelungslücken enthält“ und dass die Frage der Aufnahme von „Kinderrechten“ ins Grundgesetz keine verfassungsrechtliche, sondern eine politische Entscheidung sei (Seite 17f). Mehrfach schreibt Prof. Wapler, dass ihrer Ansicht nach die vorgeschlagenen Änderungen zwar möglich seien, aber weder notwendig noch ideal (Seiten 7, 9, 12, 14 und 16).

Die Große Koalition möchte bis Ende 2019 einen ersten Entwurf für die Aufnahme von „Kinderrechten“ ins Grundgesetz vorlegen. Dies ist nicht der erste Versuch. In den vergangenen Jahren haben zahlreiche renommierte Rechtswissenschaftler Stellungnahmen und Gutachten zu dieser Frage verfasst, die wir hier in unregelmäßigen Abständen erneut veröffentlichen und in die aktuelle Debatte einbringen möchten.