Buchbesprechung: „Siegeszug des modernen Selbst“

Trans-Hype, Queerfeminismus und LSBT-Ideologie sind nicht einfach vom Himmel gefallen. Aber welche Ideen stecken dahinter? Darauf möchte das Werk „Der Siegeszug des modernen Selbst: Kulturelle Amnesie, expressiver Individualismus und der Weg zur sexuellen Revolution“ (Verbum Medien, 2022) grundlegende Antworten geben. Das Werk ist eine Analyse der kulturellen und philosophischen Entwicklungen, die zur sexuellen Revolution des 20. Jahrhunderts und dem identitätspolitischen Kulturkampf des 21. Jahrhunderts geführt haben.

Der Autor Carl Trueman ist Kirchenhistoriker und reformierter Theologe. Er lehrte an mehreren Universitäten in Großbritannien und den USA, zuletzt als Professor für Biblische und Religiöse Studien am Grove City College. Zudem ist er Pastor der Orthodox Presbyterian Church.

In seinem Buch will der Brite Trueman aufzeigen, wie die Denker Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx, Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Herbert Marcuse die heutigen Vorstellungen von Sexualität, Geschlecht und Individuum in der westlichen Welt geprägt und verändert haben. Er stützt sich auf die Arbeiten des kanadischen Philosophen Charles Taylor, des US-amerikanischen Soziologen Philip Rieff und des schottischen Moralphilosophen Alasdair MacIntyre, um zu erklären, wie sich das Selbstverständnis des Individuums und seiner Rolle in der Gesellschaft verändert hat und welche Auswirkungen dies für das Verständnis von Ehe, Familie und Sexualität hat.

Was hat sich in der Moderne verändert?

Truemans zentrale These ist, dass die sexuelle Revolution kein plötzlicher Umbruch, sondern das Ergebnis eines langen intellektuellen Prozesses war. Besonders hebt er Taylors Begriff des „expressiven Individualismus“ hervor, der beschreibt, wie der moderne Mensch Identität zunehmend als etwas versteht, das er aus sich selbst heraus schöpfen und ausdrücken muss, anstatt es aus festen gesellschaftlichen Strukturen wie Familie, Volk, Kirche u.a. abzuleiten.

Ein weiterer Schlüsselbegriff ist der des „psychologischen Menschen“, der auf Rieff zurückgeht: Der „politische Mensch“ der vorchristlichen Antike habe seine Identität aus der politischen Betätigung für die „polis“ gezogen, der „religiöse Mensch“ des christlichen Mittelalters aus den religiösen Aktivitäten wie Gottesdienste und Wallfahrten und der „ökonomische Mensch“ der Neuzeit aus der wirtschaftlichen Tätigkeit. Nun dominiert der „psychologische Mensch“, „der sich nicht so sehr durch die Identitätsfindung im Außen auszeichnet, wie es für die vorherigen Typen zutraf. Er findet seine Identität durch die nach innen gerichtete Suche nach dem persönlichen seelischen Glück.“

Während also in früheren Gesellschaften das Individuum seinen Lebenssinn und seine Moral aus Religion oder Tradition ableitete und darauf bezog, zeichne sich die moderne Kultur dadurch aus, dass sie ihren Sinn in der individuellen Selbstverwirklichung findet. Dies führe zu einer Ablehnung traditioneller Normen und Institutionen und letztlich zu einer radikalen Neudefinition von Identität und Sexualität. Trueman erklärt, das Individuum wurde psychologisiert, die Psychologie wurde sexualisiert und schließlich wurde die Sexualität politisiert – ein Phänomen, das wir heute rund um „Pride Months“ etc. häufig beobachten können.

Der dritte Baustein in Truemans Analyse ist die Kritik von MacIntyre an der moralischen Beliebigkeit der Moderne. Der Verlust des übergeordneten moralischen Rahmens, der durch die Religion vorgegeben und u.a. durch die Familie tradiert wurde, hat laut MacIntyre zur heutigen Orientierungslosigkeit geführt:

„Was MacIntyre als den Verlust einer allgemein akzeptierten Metaerzählung, innerhalb derer eine sinnvolle ethische Diskussion (…) stattfinden kann, begreift, steht in Verbindung mit Taylors Thesen zum Übergang zu einem immanenten Rahmen und einer Kultur des expressiven Individualismus. Es passt auch zu Rieffs psychologischer Deutung der modernen Kultur als Aufstieg des therapeutischen Selbst, in der das gut ist, was mich glücklich macht. Alle drei würden sagen, dass die überragende Sehnsucht nach persönlichem Glück und seelischem Wohlbefinden im Zentrum des modernen Zeitalters steht und Ethik im Grunde zu einem subjektiven Diskurs werden lässt.“

Der Einfluss von Marx, Freud und der Frankfurter Schule

Aber wer war dafür verantwortlich? Trueman nennt hier u.a. Karl Marx, dessen historischer Materialismus auch die Institutionen von Ehe und Familie als reine Machstrukturen betrachtet, die den Menschen unterdrücken und die es daher zu überwinden gelte: „Alles wird politisiert, von religiösen Organisationen bis hin zur Struktur der Familie. In der Welt von Marx gibt es keinen privaten, vorpolitischen Raum mehr.“ Dazu kommt das Konzept der sexuellen Befreiung von Sigmund Freud, der die menschliche Identität durch die Sexualität definierte.

Die Verbindung von Marx und Freud – der Freudomarxismus – wurde schließlich von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse weiterentwickelt, die argumentierten, dass eine wahre Befreiung des Menschen nur durch die Abschaffung traditioneller sexueller Normen wie z.B. die monogame, lebenslange Ehe erreicht werden könne. Auf Reich stützte sich später auch der Pädophilenaktivist und Missbrauchstäter Helmut Kentler.

Trueman hält Reich für eine Schlüsselfigur: Da Reich Missbrauch v.a. psychologisch definierte, gestand er dem Staat auch viel weitreichendere Eingriffe in die Familie zu. Denn wenn „Unterdrückung in erster Linie psychologisch betrachtet wird, dann wird der Begriff des Opfers zu einer potenziell viel breiteren – und subjektiveren – Kategorie.“

Diese Ideen fanden bekanntlich großen Anklang in der gesamten Frankfurter Schule und bei den Poststrukturalisten wie Michel Foucault. Trueman zeigt, dass diese Ideen nicht nur auf abstrakter Ebene diskutiert wurden, sondern praktische Auswirkungen auf die Geschlechter- und Identitätspolitik der folgenden Jahrzehnte hatten.

Die Konsequenzen für Gesellschaft, Ehe und Familie

Der „expressive Individualismus“ und die Dekonstruktion der traditionellen Normen führte nach Trueman schließlich dazu, dass Ehe, Familie und Geschlecht nur noch als soziale Konstrukte wahrgenommen werden – der Kern der Gender-Theorie und heute des Trans-Hypes. Trueman erklärt, wenn das Geschlecht nicht mehr durch biologische Realität bestimmt werde, sondern individuell selbstbestimmt werden könne, führe dies zwangsläufig zu einer Auflösung aller stabilen und langfristigen sozialen Strukturen.

Der Autor führt als Beispiel die zunehmende rechtliche Anerkennung von geschlechtsneutralen Identitätskategorien an. In vielen Ländern, auch in Deutschland, kann man offiziell ein „drittes Geschlecht“ oder eine selbstgewählte Geschlechtsidentität für die behördlichen Dokumente wählen. Die praktischen Folgen für die Geschlechtermedizin, die Justiz und für die Schutzräume für Frauen dürften auch in Deutschland aufgrund des Selbstbestimmungsgesetzes weiter zunehmen.

Des Weiteren nennt Trueman den Einfluss der Trans-Ideologie auf das Bildungssystem: Kinder werden praktisch schon in Kitas und Schulen dazu ermutigt, ihr Geschlecht zu hinterfragen und ohne elterliche Zustimmung ihren Namen und ihr Aussehen zu ändern und sogar zu Pubertätsblockern und anderen trans-medizinischen Maßnahmen zu greifen. Trueman warnt davor, welche schwerwiegenden medizinischen und psychologischen Konsequenzen die Idee des „expressiven Individualismus“ mittlerweile haben kann.

Ein neues Standardwerk der Kulturkritik

Auch Denker hierzulande, die DemoFürAlle gut bekannt sind, loben das Werk: Die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz bezeichnet es als „eine Augenöffnung – somit ein großer Dienst in verwirrten Zeiten.“ Der Philosoph Harald Seubert ergänzt, das Buch erläutere die „Bewusstseinslage eines Maß und Mitte verlierenden Individualismus“. Allerdings ist es auch anspruchsvoll und mit über 500 Seiten sehr umfangreich. Aus diesem Grund veröffentlichte Trueman kurze Zeit später einen zusätzlichen Band, der die wichtigsten Thesen zusammenfasst und unter dem Titel „Fremde neue Welt: Wie Philosophen und Aktivisten Identität umdefiniert und die sexuelle Revolution entfacht haben“ (Verbum Medien, 2023) ebenfalls auf Deutsch vorliegt.

Es ist Truemans Verdienst, aufzuzeigen, dass zeitgeistige Phänomene wie der Trans-Hype Folgen eines tiefgreifenden Wandels im Selbstverständnis des Menschen sind, der sich über mehrere Jahrhunderte hinweg vollzogen hat. Sein Werk ist allerdings nicht nur eine Kritik oder Diagnose der Krise. Es soll auch jenen als intellektuelles Rüstzeug dienen, die sich nach Kräften bemühen, der Gesellschaft wieder eine stabile, naturrechtliche Grundlage zu geben.