Die Einführung von Kinderrechten in die Verfassung wäre ein Paradigmenwechsel zulasten der Eltern, sagt Arnd Uhle, Richter am Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen und Professor für Öffentliches Recht, Staatsrecht und Verfassungstheorie an der Universität Leipzig. Im Interview mit Jürgen Liminski erklärt er warum.
Der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD sieht vor, Kinderrechte im Grundgesetz ausdrücklich zu verankern. Besteht dafür ein Erfordernis?
Nein, ein solches Erfordernis besteht nicht. Es gibt keine verfassungsrechtliche Schutzlücke. Vielmehr schützt das Grundgesetz Kinder bereits heute in geradezu vorbildlicher Weise. Denn Kinder sind unter der Geltung des Grundgesetzes kraft ihres Menschseins selbstverständlicher Träger der verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte. Das betont zu Recht auch das Bundesverfassungsgericht seit Jahrzehnten in seiner Judikatur. Der Erste Senat hat dies in einem jüngeren, aus dem Jahre 2008 stammenden Urteil in die Formulierung gefasst, dass im geltenden Verfassungsrecht Kinder „Rechtssubjekt und Grundrechtsträger“ sind. Daher genießen Kinder bereits nach geltendem Verfassungsrecht den Schutz, den die Grundrechte des Grundgesetzes verbürgen – vom Grundrecht auf Leben bis zum Schutz der Religionsfreiheit. Einer ausdrücklichen Aufnahme neuer Kinderrechte bedarf es dafür nicht.
Dennoch halten die Parteien, insbesondere die SPD, es für erforderlich, das Recht jedes Kindes „auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit“ ausdrücklich zu verbürgen. Wie wäre ein solches Recht zu bewerten?
Eine derartige Ergänzung des Grundgesetzes wäre überflüssig. Denn das Bundesverfassungsgericht hat bereits in einem Beschluss von 1968 – also vor einem halben Jahrhundert – festgehalten: „Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG“. Darauf aufbauend hat es auch später betont, dass unter der Geltung des Grundgesetzes jedes Kind über „ein Recht auf eine möglichst ungehinderte Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit seiner Anlagen und Befähigungen“ verfügt. Eine Grundgesetzergänzung, die das nochmals sichern wollte, brächte Kindern folglich keine Rechte, die nicht schon nach geltendem Verfassungsrecht bestehen würden.
Von den Befürwortern einer Verfassungsänderung wird angeführt, dass eine explizite Vorschrift, die die Sicherung der Rechte des Kindes zur Aufgabe der staatlichen Gemeinschaft machen würde, den Kindern mehr Schutz als bislang bieten würde. Man stützt sich auf Fälle von Kindesmißbrauch und Gewalt in Familien.
Einen solchen Schutz bietet das Grundgesetz bereits heute. Denn es bezeichnet Pflege und Erziehung der Kinder nicht nur als das natürliche Recht der Eltern, sondern auch als die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht, über deren Erfüllung die staatliche Gemeinschaft wacht. Daraus folgt: Es sind zwar die Eltern, denen das Recht für die Erziehung ihrer Kinder übertragen ist und die daher über ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in ihre Erziehungs- und Elternverantwortung verfügen. Dieses Recht ist ihnen indes nicht um ihrer selbst willen übertragen, sondern um ihrer Kinder willen. Es ist daher ein dienendes, treuhänderisches Recht – ein Recht, das maßgeblich auf das Kindeswohl ausgerichtet ist. Dort, wo Eltern bei der Kindererziehung versagen und dadurch dieses Kindeswohl in schwerwiegender Weise beeinträchtigen, greift das staatliche Wächteramt ein. Dieses berechtigt den Staat nicht nur, im Falle einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des Kindeswohls zu intervenieren, sondern verpflichtet ihn hierzu auch. Das zeigt, dass der Schutz der Rechte der Kinder bereits heute eine Pflichtaufgabe des Staates ist und durch das Grundgesetz verbürgt wird. Es kommt darauf an, dass der Staat dieser Aufgabe auch tatsächlich nachkommt und seiner Verantwortung entspricht, beispielsweise dadurch, dass er in ausreichender Zahl qualifizierte Mitarbeiter in den Jugendämtern vorhält. Zur Bewältigung dieser Aufgabe können jedoch ausdrückliche Kinderrechte im Grundgesetz nichts beitragen.
Könnte man sich dann aber nicht auf den Standpunkt stellen, dass derartige Kinderrechte zwar vielleicht überflüssig erscheinen mögen, auf der anderen Seite aber doch zumindest unschädlich sind?
Eine solche Bewertung halte ich für verfehlt. Zwar hängt im Detail selbstredend viel von der konkreten Formulierung derartiger Kinderrechte ab. Gleichwohl zeichnet alle in jüngerer Zeit diskutierten Vorschläge die Tendenz aus, das Verhältnis zwischen Elternverantwortung und staatlichem Wächteramt zu verändern – und zwar zulasten des Elternrechts und zugunsten der staatlichen Einflußnahme. Das liegt daran, dass aufgrund der Architektur des heutigen Art. 6 GG das Elternrecht bislang nur bei einer ernsthaften Beeinträchtigung des Kindeswohls zurückgedrängt werden kann. Hingegen gestattet Art. 6 GG kein staatliches Tätigwerden, um entgegen dem Elternwillen lediglich für die vermeintlich beste Entwicklung des Kindes zu sorgen. Im Falle der Aufnahme ausdrücklicher Kinderrechte in das Grundgesetz besteht die Gefahr, dass sich genau dies ändert. Denn neu positivierte Kinderrechte haben das Potenzial, unter Berufung auf ihren Schutz zukünftig bereits im Vorfeld einer Beeinträchtigung des Kindeswohls – und damit sehr viel früher und häufiger als bislang – staatliche Interventionen zu rechtfertigen. Eine solche Entwicklung würde für das Verhältnis von Elternrecht und staatlichem Wächteramt einen in seiner Bedeutung kaum überschätzbaren Paradigmenwechsel darstellen.
Die Verfechter einer Verfassungsänderung beteuern, einen solchen Paradigmenwechsel nicht herbeiführen zu wollen.
Derartige Beteuerungen mögen ernst gemeint sein, rechtlich belastbar sind sie nicht. Denn für die Auswirkungen einer Grundgesetzergänzung ist nicht die Absicht ihrer Urheber entscheidend, sondern der objektive Sinngehalt der Verfassungsänderung. Und dieser Sinngehalt spricht für eine Änderung der Rechtslage: Denn dass auf der einen Seite das dringliche Erfordernis einer Verfassungsergänzung postuliert wird, mit einer solchen Ergänzung auf der anderen Seite aber keine Modifikation der Verfassungsrechtslage verbunden sein soll, ist bei objektiver Betrachtung wenig plausibel. Demgemäß würde sich eine solche Interpretation wohl kaum durchsetzen.
Unterstellt, es käme in der Folge einer Grundgesetzergänzung zu einem Paradigmenwechsel: Wie würde sich dieser aus Ihrer Sicht konkret auswirken?
Ein derartiger Paradigmenwechsel hätte vielfältige Auswirkungen. Die Kette denkbarer Beispiele ist lang. Exemplarisch könnte gestützt auf ein kindliches Recht auf Bildung etwa einer staatlichen Kindergartenpflicht der verfassungsrechtliche Weg gebahnt werden. Eine solche Pflicht könnte unter Umständen auch für Kinder in frühem Lebensalter, gar für Kleinkinder, vorgesehen werden – unabhängig davon, ob die Eltern dies für richtig halten oder nicht. Das zeigt an: Kinderrechte weisen die Tendenz auf, das Elternrecht zulasten des staatlichen Bestimmungsrechts zu schmälern. Bei ihnen gewinnt weniger das einzelne Kind an Rechten, sondern vielmehr der Staat an Bestimmungsmacht.
Aber würde einer solchen Entwicklung nicht die bisherige und von Ihnen beschriebene bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung entgegenstehen?
Ich fürchte nein. Denn ein entsprechend geänderter Verfassungstext würde in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den nachvollziehbaren Reflex hervorrufen, dass sich die Rechtslage verändert hat: Wer Verfassungsänderungen sät, wird eine geänderte Verfassungsrechtsprechung ernten. Das gilt auch für die ausdrückliche Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz.
Dieses Interview erschien am 28. Mai 2018 auf www.i-daf.org.