Das pädosexuelle Netzwerk um den einstigen „Star der Sexualforschung“ Helmut Kentler ist vielschichtiger und weitläufiger, als bisher angenommen. Und es besteht bis heute fort. Besonders brisant: Kentler war nicht nur Vermittler innerhalb der Päderasten-Szene, sondern selbst am sexuellen Missbrauch der „Pflegekinder“ beteiligt. So lässt sich der Zwischenbericht zur Studie „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe – Aufarbeitung der organisationalen Verfahren und Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes“ zusammenfassen.
Bisher war über Kentlers Privatleben nur bekannt, dass er offen homosexuell lebte und drei Adoptivsöhne und einen Pflegesohn hatte. Im Rahmen seiner „Kentler-Experimente“ hatte der Professor für Sozialpädagogik ab Ende der 60er Jahre verhaltensauffällige Jungen im Alter von 6 bis 14 Jahren bei pädosexuellen Männern untergebracht. Die „Pflegeväter“ waren meist vorbestrafte Sexualstraftäter. Ermöglicht wurde der strukturelle Missbrauch durch den Berliner Senat und die Berliner Jugendämter.
Zwei damalige Missbrauchsopfer hatten sich nach einem Forschungsbericht von Dr. Teresa Nentwig 2017 an die Öffentlichkeit gewandt und viele grausame Details ans Licht gebracht. Der öffentliche Druck wurde so groß, dass die Berliner Senatsverwaltung die Universität Hildesheim beauftragte, Klarheit in den undurchsichtigen Pädophilie-Sumpf rund um Kentler und die Berliner Jugendämter zu bringen. Seit 2019 befragten die Wissenschaftler Zeitzeugen und wälzten hunderte Akten und vor allem: Sie interviewten Missbrauchsopfer, die sich gemeldet haben. So wurde nun auch mit dem Zwischenbericht bekannt, das Kentler selbst aktiver Missbrauchstäter war:
„Die betroffene Person berichtet, dass sie und die anderen jungen Menschen während dieser Zeit bei Helmut Kentler massiven Übergriffen und sexualisierter Gewalt durch Helmut Kentler selbst ausgesetzt waren. Insbesondere junge Menschen im Alter von 10 bis 14 Jahren bezeichnete Helmut Kentler als „seine Favoriten“. Die Hilferufe der betroffenen Person wurden jedoch von Seiten der Familie ignoriert. Erst als die betroffene Person älter wurde, konnte sie sich gegen die Übergriffe von Helmut Kentler wehren, indem sie ihn „geschlagen“ habe. Ab diesem Zeitpunkt stimmte Helmut Kentler einer Rückkehr der betroffenen Person in die eigene Familie zu.“
Landesweit agierender Pädophilen-Ring
Bereits im Forschungsbericht der Uni Hildesheim 2020 zum „Kentler-Experiment“ war die Rede von einem mächtigen bundesweiten pädosexuellen Netzwerk gewesen. Der aktuelle Zwischenbericht geht noch weiter und spricht von einem über viele Akteure und staatliche wie kirchliche Institutionen verwobenes Missbrauchsnetzwerk in ganz West-Deutschland. Vor allem die Interviews mit den Betroffenen decken die ganze unfassbare Dimension des Netzwerks auf. In einer Zeit, als Pädophile sich als ausgegrenzte sexuelle Minderheit und sogar als „Opfer“ stilisierten, entstanden zahlreiche pädophile Unterstützerkreise:
„Die betroffene Person berichtet weiter, dass sie des Öfteren bei einzelnen dieser pädosexuellen Männer zu Hause war und mit ihnen auf Reisen ging. Im Kontext dessen kam es zu sexualisierter Gewalt, worüber sie sich jedoch „keine großen Gedanken gemacht“ hat, da die Männer Zeit für sie hatten und durch ihr Umfeld stets als „die Guten“ gerahmt wurden, weshalb ein intendiert übergriffiges Handeln „unmöglich“ sein konnte.
(…)
Diese Männer aus der Kirchengemeinde machten die betroffene Person u. a. mit verschiedenen Vereinen und Institutionen, die explizit Homosexuelle adressierten, bekannt. In einem dieser Vereine – so berichtet die betroffene Person weiter – wurde ein sogenannter Pädophilenstammtisch eingerichtet, sodass die betroffene Person hierüber Berührungspunkte mit „der Pädophilenszene“ hatte. Aus heutiger Sicht benennt die betroffene Person, dass es, unter dem Deckmantel der Fürsorge, primär um sexualisierte Gewalt und Ausbeutung ging.“
Dieser landesweit agierende Pädophilen-Ring stabilisierte sich selbst über Machtstrukturen, so heißt es in dem Bericht, „die bis heute durch anerkannte und z. T. öffentlich bekannte Funktionsträger, wie Kirchenmitglieder und Wissenschaftler, erhalten werden.“ Durch direkte oder indirekte Konstellationen, durch bewusstes Wegschauen und Schweigen seien die Übergriffe ermöglicht worden. Neben vielen über das Bundesgebiet verteilten Akteuren habe das Landesjugendamt in Berlin dabei eine zentrale Rolle gespielt.
Kentlers Gedankengut muss aus Schulen und Kitas verschwinden
Schon lange weist DemoFürAlle darauf hin, dass mit dem Tod Kentlers 2008 das pädokriminelle Kartell nicht einfach verschwunden ist. „Dass jenes Netzwerk, mit dem Helmut Kentler verwoben war, bis in die Gegenwart wirkt“, ist nun wissenschaftlich bestätigt. Zu dem Netzwerk gehören laut den Autoren auch Wissenschaftler, die „die Schriften Helmut Kentlers weiterhin rezipiert haben bzw. rezipieren und sich somit weder eindeutig von der Figur Kentler und seinen Positionen und Handlungen distanziert, die über ihr Wissen über sexualisierte Übergriffe in diesem Kontext und darüber hinaus nicht berichten, noch sich kritisch mit seinen Positionen und Handlungen auseinandergesetzt haben“.
Hedwig v. Beverfoerde, Sprecherin von DemoFürAlle, erklärt dazu:
„Durch die Ergebnisse des Zwischenberichts haben sich unsere schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet: Das Netzwerk um Helmut Kentler ist weiterhin aktiv. Dazu müssen auch die Vertreter der ‚Sexualpädagogik der Vielfalt‘ gezählt werden, die sich bis heute auf die ‚emanzipatorische Sexualpädagogik‘ von Kentler stützen. Dass Kentler laut dem Zwischenbericht sogar selbst Minderjährige sexuell missbraucht hat, macht dies noch schlimmer. Spätestens jetzt ist eindeutig:
Wer sich heute noch positiv auf Helmut Kentler bezieht, macht sich mit einem gefährlichen Verbrecher gemein. Wir müssen daher erneut mit Nachdruck fordern, dass das Gedankengut Kentlers und seiner Schüler dringend aus allen sexualpädagogischen Lehrmaterialien sowie Lehr- und Bildungsplänen für Schulen und Kitas verschwindet.“
Nun wird auch klar, warum sich die zahlreichen Opfer dieses Pädophilen-Rings bisher kaum öffentlich zu Wort gemeldet haben, und warum sie bis heute nur mit großer Überwindung dazu in der Lage sind, sich den Wissenschaftlern der Universität Hildesheim anzuvertrauen:
Betroffene werden bedroht und unter Druck gesetzt
In der Studie wird mehrfach darauf hingewiesen, dass sich die Betroffenen im Rahmen der Aufarbeitung nicht nur posttraumatischem Stress ausgesetzt sehen. Vielmehr rühren die massiven Ängste und Verunsicherungen auch daher, dass vor allem im offiziellen sexualpädagogischem Wissenschaftsdiskurs die Positionen Kentlers nach wie vor befürwortet, bagatellisiert und sogar heroisiert werden. Die Betroffenen berichten von Therapieversuchen und von direkten Konfrontationen im damaligen Täter- und Unterstützerumfeld, in denen sie mit ihren Missbrauchserfahrungen nicht ernst genommen, zurückgewiesen oder als „krank“ bezeichnet wurden. „Dies schließt auch Vertreter der evangelischen Kirche mit ein, die Gewalt und Grenzverletzungen ignorieren, indem sie auf kritische Anfragen nicht reagieren“, schreiben die Autoren und weiter:
„Diese verschiedenen Akteurs- oder „Bystander“-Positionen erzeugen bei den Betroffenen Gefühle von Angst bis hin zu Ohnmacht und Hilflosigkeit. Entsprechend verfügen auch diese Akteure oder „Bystanders“, insbesondere der wissenschaftlichen und der fachlichen Öffentlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe, bis heute über eine Macht, die die Betroffenen bedrohen und der sie ausgesetzt sind.“
Aus Gründen des Datenschutzes wurden die Namen der Täter und Mitwisser in einem mehrstufigen Verfahren anonymisiert. Doch für das noch aktive pädokriminelle Netzwerk und seine Unterstützer wird die Luft jetzt dünner. Bis Ende September des kommenden Jahres soll die Studie abgeschlossen sein.
Anmerkung der Redaktion: Für die bessere Lesbarkeit wurde in den Zitaten auf die Verwendung des Gender-Sterns verzichtet.