„Next Level: Wie ich erwachsen werde, ohne zu verzweifeln“

„Eine gute Sexualaufklärung ist ein Lebensstil und kein Termin“, sagt Frauenärztin und Sexualberaterin, Ute Buth, im Interview mit HopeTV. Sie stellt ihre beiden Aufklärungsbücher vor: „Next Level – Wie ich erwachsen werde, ohne zu verzweifeln“. In etwas unterschiedlicher Aufmachung vermitteln sie jungen Lesern ab 12 Jahren einmal „Basics für Mädchen“ und einmal „Basics für Jungs“. Die „ehrlichen, unverblümten und einmaligen Pubertätsreiseführer“ umfassen in beiden Varianten 272 Seiten und sind 2023 in der Neukirchener Verlagsgesellschaft erschienen.

Eltern sind die wichtigsten Vorbilder und Ratgeber im Leben ihrer heranwachsenden Kinder. Im Familienleben entwickelt sich das sexuelle Skript beziehungsweise die sexuelle Lerngeschichte von Kindern maßgeblich. Hinzu kommen von Anfang an unzählige äußere Einflussfaktoren, die auf Kinder einprasseln, ob sie wollen oder nicht. Auch wenn der Lebensstil der Eltern vorbildlich ist, und auch gerade dann, wenn er das im Empfinden der Eltern vielleicht nicht ist, kommt der Zeitpunkt, an dem sich Eltern professionelle Schützenhilfe wünschen.

Die einen stellen fest, dass die sexualisierten Botschaften der Außenwelt immer radikaler ihre familiäre Prägung hinsichtlich Sexualität, Beziehungsanbahnung und Ehe konterkarieren, und suchen ein Gegengewicht, das bei ihren Kids gut ankommt. Die anderen sind in ihrer Ehe gescheitert oder ihre Vergangenheit mit sexuell intimen Beziehungen belastet ihre Partnerschaft und Familie. Sie fühlen sich nicht als gutes Vorbild, oder das Ansprechen gewisser Themen berührt wunde Punkte. Umso mehr wünschen sie sich, dass ihre Kinder später einmal auf eine gelungene Ehe und glückliche Liebesgeschichte zurückblicken können, und nicht die Fehler ihrer Eltern wiederholen.

So oder so ähnlich sehen die Gründe aus, warum Eltern ihren Kindern „Next Level“ in die Hand drücken, oder – vermutlich viel öfter – selbst darin lesen. Der „Survial-Guide“ für einen entspannten Weg durch die Pubertät bietet fachlich fundierte und dennoch zielgruppengerechte Infos zu den drängenden sozialen, psychologischen, anatomischen und medizinischen Fragen in der Pubertät. Das Fühlen, Zweifeln und Sehnen, die körperlichen Veränderungen, Reaktionen und Bedürfnisse werden angesprochen, sowohl die des eigenen als auch die des anderen Geschlechts.

Dating, erste Liebe, Sex – Worin unterscheidet sich der Mensch vom Tier?

Es beginnt mit den Themen Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung („Freundschaft. Mit mir?!“), gefolgt von Körperentwicklung und hormoneller Reifung („Alles über Mädchen“ und mit Blick auf die andere Seite: „Good to know – alles über Jungs“). Anschließend bilden die Herausforderungen mit Gleichaltrigen, sozialen Medien, Gruppendruck und Mobbing eine Hinführung zu den Kernkapiteln eines jeden Aufklärungsbuches: Romantische Beziehungen und „Alles über Sex“.

Dating, erste Liebe und Sex sind dominante Themen in Teenager-Jahren. Wer hat schon seinen ersten Freund? Das auch von Eltern gedankenlos vorangestellte „erste/erster“ vor „Freund/Freundin“ nimmt das Ende der Beziehung und eine sich anschließende sexuelle Intimität mit einem neuen Partner schon vorweg. Wechselnde und trotz Verliebtheit kaum auf Dauer und Verbindlichkeit ausgerichtete Beziehungen sind die Normalität derjenigen, deren Abitur oft noch in weiter ferne ist. Auch längere Liebesbeziehungen scheitern häufig dann, wenn beide erwachsen werden. Wie soll Sexualpädagogik und Aufklärung das einordnen? Gehören erste Liebe, Sex und Liebeskummer zum Erwachsenwerden einfach mit dazu? Ja, sagen die Vertreter der emanzipatorischen Sexualpädagogik der Kentler-Sielert-Schule. Ihre Pädagogik folgt strikt und einzig dem Lustprinzip. Helmut Kentler, der Urheber der heute verbreiteten „nichtrepressiven Sexualerziehung“ formuliert als primäre These: „Grundlage und Richtschnur aller Sexualerziehung muss die Einsicht sein, dass das augenblickliche Glück des Heranwachsenden nicht einem zukünftigen aufgeopfert werden darf.“

Unbeabsichtigt schimmert hier die Einsicht durch, worin sich der Mensch vom Tier unterscheidet: Eine enthemmte Sexualität in der Jugend und sexuell intime Ex-Beziehungen stehen dem zukünftigen Glück einer langfristigen Liebesbeziehung entgegen. Den wenigen Alternativangeboten zur emanzipatorischen Sexualpädagogik kommt die Aufgabe zu, Heranwachsenden verständlich zu erklären, warum das so ist.

Ute Buth ist Fachberaterin beim weißen Kreuz, einem evangelischen Fachverband für Sexualethik und Seelsorge, der sich an biblischen Werten orientiert. Was gibt sie beziehungshungrigen Mädchen und hormonell völlig außer Rand und Band geratenen Jungen mit auf den Weg? Neben aller empfehlenswerter Reiseführerschaft durch die Pubertät gelingt es ihr kaum, die den Unterschied machende Frage, warum soll ich warten, in Kapiteln wie „Braucht Sex einen ‚Schutzraum‘?“ oder „Spricht etwas dafür mit dem Sex bis zur Ehe zu warten?“ zu beantworten. So zu beantworten, dass junge Menschen ohne eigene Erfahrung die tiefe Bedeutung der sexuellen Vereinigung und die dauerhafte Verbindung, die dabei zwischen Mann und Frau entsteht, antizipieren können.

Wenn ihr „bis zur Ehe warten wollt, sind gute Grenzen hilfreich“, schreibt Buth und schließt den Tipp an: „Findet eure eigenen Vorstellungen von Grenzen, klärt, wieso ihr die so seht und überlegt, welchen Rahmen ihr braucht, um sie einzuhalten. Es nützt nichts, wenn euch jemand von außen Grenzen ‚vorschreibt‘ oder sie euch ‚überstülpt‘.“

Sex vor der Ehe? – Jugendliche brauchen eine echte Entscheidungsgrundlage

Es ist kaum nachvollziehbar, warum verknallte Teenager zu der „eigenen Vorstellung“ gelangen sollten, mit dem Sex bis zur Ehe zu warten. Selbst wenn sie durch familiäre Prägung ein sexuelles Skript, einen inneren Kompass haben, der ihnen in den entsprechenden Situationen mittels Bauchgefühl die richtige oder falsche Richtung anzeigt, brauchen sie Erwachsene, die dem Bauchgefühl nachvollziehbare Gründe zur Seite stellen.

Eine im luftleeren Raum stehende Sexualmoral, ob nun evangelisch oder katholisch, die „vorschreibt und „überstülpt“, nützt gewiss nichts und ruft sogar Trotzreaktionen hervor. Doch wenn Erwachsene ihren Kindern eine glückliche und tragfähige Liebesbeziehung wünschen, muss die Frage, warum soll ich warten, tatsächlich ehrlich und unverblümt beantwortet werden. Es ist die Aufgabe der Sexualpädagogik, für eine echte Entscheidungsgrundlage zu sorgen.

Über wenige Andeutungen, wie „Berater weisen darauf hin, dass intime Begegnungen in der Sexualität zwischen den Partnern eine Bindung schaffen“, und aus der Perspektive der Paar- und Sexualberatung spreche „sehr viel für Sex in der Ehe“, geht Buth nicht hinaus. Zur Frage, wann der beste Zeitpunkt für das „erste Mal“ sei, solle man seine „eigene, gut durchdachte Position“ finden.

Im Kapitel „Aus und vorbei?!“ betont Buth, dass manche für eine Beziehung noch viel zu unreif seien, denn „gerade in der Teenie-Zeit formt sich die Persönlichkeit erst noch.“ Die moderne Hirnforschung zeigt, dass die Entwicklungsprozesse während der pubertären Hirnreifung gravierender sind, als zuvor angenommen. „Je älter du wirst, umso aktiver und verantwortungsvoller kannst du deine Lerngeschichte gestalten“, weiß Buth. Im Umkehrschluss heißt dies, je jünger man ist, umso ausgelieferter steht man noch sämtlichen Einflüssen gegenüber.

Vor diesem Hintergrund darf man die Frage stellen, ob Erwachsene ihre unreifen Kinder sehenden Auges intime Beziehungen eingehen lassen sollen, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Dauer sein werden. Oder ob ein sozial verbindliches Regelwerk, das Sexualität in einer dauerhaften, monogamen Beziehung verortet, Jugendliche vor Schaden bewahrt und die im Erwachsenenalter eingegangenen Paarbeziehungen und Ehen stabilisiert.

Man spürt die Ex-Beziehungen des Partners

Zurück zur selbstbestimmten, „gut durchdachten Position“ – welche Entscheidungsgrundlagen sollten Erwachsene liefern? Buth lässt ab und an dezente Hinweise einfließen, etwa wenn sie über die Besonderheit beim „ersten Mal“ referiert: „Der Mann führt seinen Penis immerhin in den Innenraum der Frau ein. Er kommt dieser Frau so nah wie bisher niemand anders.“ Beim gemeinsamen Sex stellt sich nicht nur die Scheide nach und nach „auf den Penis ein“, sondern man lernt sich intensiv kennen: „Beim Sex verschwimmen quasi Körpergrenzen. Die Bibel spricht sogar davon, dass Ehepaare eins werden.“

Vor dem „ersten Mal“ solle man sich Gedanken machen: „Wie fest ist eure Beziehung? Kommst du damit klar, wenn sie wieder auseinander geht?“ Denn das Aus kann „voll schmerzhaft sein“, weil bei Beziehungen Bindung entsteht. Je mehr man „körperlich miteinander intim war, umso schwerer fällt oft die Trennung.“

Genau hier sollten die Erklärungen anfangen und nicht aufhören. Nach der Trennung schwächt sich der Liebeskummer meist irgendwann ab, aber die Bindung zum Ex-Partner, mit dem man „eins geworden ist“, bleibt bestehen. In gewisser Weise nimmt man die frühere Beziehung in die nächste mit. Buths Erklärungen zur Lerngeschichte hätten ein Ansatzpunkt sein können. Sexuelle Erfahrungen, egal ob One-Night-Stand oder eine romantische Beziehungen, senken sich tiefer als alles andere ins Körpergedächtnis und in die Seele. Buth drückt es abstrakter aus: Einmal gespeicherte Inhalte können „nicht einfach gelöscht oder durch andere Inhalte ersetzt werden.“ Beide Lerngeschichten „verknüpfen sich“ nach und nach.

Der erfahrene Sexualtherapeut könnte gegenüber Jugendlichen präzisieren: Körper und Seele spüren die Ex-Beziehungen des Partners. Und Fragen anschließen, die den Unterschied machen: Wie viel Wertschätzung kann man für die Ehe und seinen Partner aufbringen, wenn er sich körperlich und seelisch auf die intimste Weise schon auf einen oder mehrere andere eingestellt hat? Wie exklusiv, romantisch und wie glücklich kann eine Ehe noch sein, wenn die intime Verbindung zu den anderen Menschen dauerhaft ist?

Niedrigste Scheidungsraten und höchste sexuelle Zufriedenheit

Bei diesen Gedanken zur menschlichen Sexualität geht es nicht um patriarchale Relikte, wie Buth mit Blick auf „manche Kulturen“ und den „Mythos“ ums Jungfernhäutchen nahelegt, und dazu anmerkt: „Unfairerweise bleibt die Frage, ob der Mann ‚jungfräulich‘ in die Ehe geht, außen vor.“ Es kommt anthropologisch jedoch nicht von ungefähr, dass im männlichen Empfinden nicht das unverletzte Hymen sondern tatsächlich die Jungfräulichkeit des liebgewonnenen Mädchens hoch im Kurs steht. Der Wiener Gynäkologe und Hormonforscher Johannes Huber liefert dafür in seinem Buch „Der holistische Mensch“ eine naturwissenschaftliche Erklärung:

Die Biologie reiche weit in die Seele hinein, und die männliche und weibliche Sexualität unterscheide sich stark voneinander. Im Aufklärungsunterricht werde gut über die Anatomie informiert, aber kaum über die Nachhaltigkeit einer sexuellen Beziehung, kritisiert Huber. Und Frauen würden die Nachhaltigkeit in der Sexualität viel mehr zelebrieren. Das hat auch hormonelle Gründe. „In dem Moment, wo der erste Tropfen der Spermaflüssigkeit eines Mannes den weiblichen Genitaltrakt nur berührt, macht die Frau von diesem Mann eine Blaupause“, sagt Huber. „Sie adaptiert ihr regionales Immunsystem an das des Mannes und gibt dem Sperma den Passierschein.“ Beim Geschlechtsakt würden sich das Immunsystem von Mann und Frau in geniale Weise angleichen. Die hormonellen Prägemechanismen reichten „weit in das Alter hinein“, betont Huber.

Eine Frau verbindet sich beim Sex intensiver mit ihrem Partner. Nicht nur genital und immunologisch stellt sie sich auf ihn ein, sie speichert ihn auch seelisch viel umfassender und dauerhafter ab. Männern bleiben diese Vorgeschichten nicht verborgen. Sie spüren im intimen Zusammenleben mit ihrer Frau die schemenhafte Anwesenheit ihrer Ex-Partner. Die daraus resultierende Eifersucht, Enttäuschung und vermisste Exklusivität sind kein patriarchaler Reflex. Die Scheidungsforschung sieht hierin eine Ursache für unausgesprochene, schwelende Konflikte in der Ehe. Und sie belegt sowohl die niedrigsten Scheidungsraten als auch die höchste sexuelle Zufriedenheit bei all jenen Paaren, die lediglich mit dem zukünftigen Ehegatten Geschlechtsverkehr gehabt hätten (vgl. hier und hier).

Eine Sexualpädagogik, die sich von Kentler und Co unterscheiden will, und die auch das zukünftige Glück von Heranwachsenden im Blick hat, könnte sich an Oscar Wilde orientieren, der das längst erkannt hatte: „Männer wollen immer die erste Liebe im Leben einer Frau sein, Frauen sind gerne der letzte Roman eines Mannes.“ Wie schön, wenn beides zusammenfällt.