Kentlers Erben – „Lust und Erregung im dt. Bildungswesen“

Der Sexualpädagoge Karlheinz Valtl plädierte bereits 1997 für mehr praktische Übungen und mehr „Erregung im deutschen Bildungswesen“. Seinen Kollegen Uwe Sielert unterstützte er maßgeblich dabei, Helmut Kentlers Vision einer lustzentrierten, sexualisierenden Pädagogik zu etablieren. Valtls Fokus lag vor allem auf der theoretisch-philosophischen Untermauerung der Kentler-Sielert-Schule.

Nach seinem Lehramtsstudium für Grund- und Hauptschulen an der Universität Regensburg lebte Valtl Anfang der 1980er ein Jahr als „Musiker und Straßensänger“. 1987 promovierte er in den Fächern Pädagogik und Psychologie, um anschließend weiterhin in Regensburg am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik zu arbeiten.

Seine laut Lebenslauf erste Berührung mit der Sexualpädagogik führte Valtl direkt ins Zentrum des Geschehens. Von 1992 bis 2012 war er Dozent am Institut für Sexualpädagogik (isp) in Dortmund, das Sielert 1988 gegründet hatte. Dort war er auch Lehrtrainer, und von 2006 bis 2009 Vorsitzender des isp. Zuvor war Valtl ein Entsandter des isp in die Politik. Von 1996 bis -97 arbeitete er im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales am BLK-Modellprojekt „Entwicklung und Erprobung eines berufsbegleitenden Grundlagencurriculums Sexualpädagogik für MultiplikatorInnen im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen“ mit.

Heute ist Valtls neuer Schwerpunkt die „Pädagogik der Achtsamkeit“ an der Uni Wien. Nur antiquarisch erhältliche Bücher aus seiner isp-Zeit erinnern noch an den Sexualpädagogen: „Sexualpädagogik lehren. Didaktische Grundlagen und Materialien für die Aus- und Fortbildung.“ Das hatte Valtl im Jahr 2000 zusammen mit Sielert herausgegeben.

Sexuelle Bildung“ ist „Lernen durch Tun“

Den Begriff „sexuelle Bildung“ hat Valtl selbst mit initiiert: „Mit diesem Begriff spielten Uwe Sielert und ich vor einem Jahr, als wir das erste Konzept zu dieser Tagung entwarfen.“ Valtls pädagogischer Grundsatz von der Sexualität als lebenslange Lern- und Bildungsaufgabe, wonach Menschen auf äußerliche Anregungen angewiesen seien, fügt sich also nicht nur in das isp-Universum Sielerts ein, sondern hat dieses mit geprägt. Die „sexuelle Bildung“ steht in der Tradition Kentlers, der den sexualpädagogischen Grundsatz „Lernen durch Tun“ begründete.

Valtl spricht immer wieder von einem „ganzheitlichen“ sexualpädagoischen Ansatz. Damit meint er nicht eine bindungsorientierte Sexualität, die Seele und Geist einbezieht, sondern eher einen esoterisch-spirituellen Zugang zur sexuellen Lust. Im Sammelband „Sexualpädagogik weiter denken. Postmoderne Entgrenzung und pädagogische Orientierungsversuche“, herausgegeben von Sielert, Stefan Timmermanns und Elisabeth Tuider, unternimmt Valtl einen Ausflug in die indische Heilslehre. Neben Beiträgen zu dekonstruktivistischen Gender-Theorien, zu Sado-Maso oder zur „freien ,AG Sexpäd’ für die Sekundarstufe 1“ breitet auch Valtl seine Gedanken aus: „Tantra: Vision einer ganzheitlichen Sexualität und Anregung zu einer neuen Sexualpädagogik“, heißt sein Beitrag.

„Sinnes- und Sinnlichkeitsbildung“ ist für Valtl ein zentraler Aspekt der „sexuellen Bildung“. Die Idee, schon Kinder auf die Pfade sexuellen Glücks zu führen, und zwar durch die aktive Unterstützung ihrer Erzieher, stammt von Kentler.

Kinder als sexuelle Wesen?

Aufschlussreich für Valtls geistige Nähe zu Kentler ist sein grundlegender Vortrag „Emanzipatorische Sexualpädagogik – Konsequenzen für Aus- und Fortbildung“, den er 1997 auf der Fachtagung „Sexualpädagogik und Sexualwissenschaft: Bestandsaufnahme und Perspektiven für sexualpädagogische Qualifizierungsmaßnahmen“ in der Fachhochschule Merseburg hielt. In diesem überprüft Valtl Kentlers 30 Jahre zuvor formulierte Thesen einer „nichtrepressiven Sexualerziehung“, auf bestehende Relevanz. „Überraschenderweise“ sei Kentler bei diesem Vortrag anwesend gewesen, bemerkt Valtl in einer Fußnote.

Valtls Vortrag kann als Zeitdokument für den Einfluss Kentlers auf die heutige Sexualpädagogik gelten. Valtl beschreibt in Anwesenheit Kentlers und zahlreicher zentraler Akteure (BZgA, pro familia, ISP, GSW, FH Merseburg, IFP Kiel) die Transformation der Kentlerschen Thesen, wie „Lernen durch Tun“ oder Priorität des augenblicklichen Glücks, in die moderne neo-emanzipatorische Sexualpädagogik. Mit seiner Ideologie hat Kentler seinen Nachfolger geprägt, wie bereits in einem der ersten Absätze deutlich wird:

Emanzipatorische Sexualpädagogik ist gegen jede Diskriminierung von Minderheiten und tritt ein für die Gleichberechtigung von Homo- und Heterosexuellen, von Frauen gegen patriarchale Gewalt und für die sexuellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in einer erwachsenenzentrierten Gesellschaft.

Dass Kinder „sexuelle Bedürfnisse“ hätten, ist eine Behauptung der Kentler-Sielert-Schule, die auf Freuds Phasenmodell der psychosexuellen Entwicklung zurückgeht. Wegen des Mangels an empirischer Evidenz, wegen der Überbetonung der Sexualität in der Kindheit und wegen neuer Erkenntnisse aus der modernen Hirn- und Bindungsforschung gilt Freuds Lehre längst als überholt.

Das hindert die Vertreter der Kentler-Sielert-Schule jedoch nicht daran, sich immer wieder auf Freud zu beziehen. Freud ist ihr einziger „wissenschaftlicher“ Beleg für ihre Behauptung, Kinder seien von Geburt an „sexuelle Wesen“. Ihre Umdeutung kindlichen Bindungsverhaltens, wie das Saugen an der Mutterbrust, das Nähe Suchen und das Kuschelbedürfnis als „sexuelle“ Motive, ist die Basis ihrer sexualpädagogischen Konzepte, die Kleinkinder und Kinder als Adressaten haben.

Es ist also keine Ungenauigkeit, wenn Valtl „Kinder und Jugendliche“ zusammen nennt, sondern hier offenbart er, was er selbst zu kritisieren vorgibt: Seinen „erwachsenenzentrierten“ Blick auf Kinder. Kentlers Menschenbild und dessen Blick auf Kinder ist immanent, wenn Valtl nun die zentralen Aufgaben der „emanzipatorische Sexualpädagogik“ formuliert. Dabei bezieht sich Valtl auf die zehn zentralen Thesen Kentlers zu einer „nichtrepressiven Sexualerziehung“, die er im Anhang auflistet. Diese Thesen im Speziellen und Kentlers Lehre im Allgemeinen gleicht Valtl im Laufe seines Vortrags mit den heutigen (1997) Anforderungen an Sexualerziehung ab:

Entgrenzung des Triebhaften statt Erziehung zur Liebesfähigkeit“

Emanzipatorische Sexualpädagogik soll im Sinne Kentlers auf „die Autonomie der Subjekte“ bauen, und zugleich fragen, welche „Kompetenzen Erziehung den Individuen vermitteln kann, damit diese ihren Spielraum an Selbstbestimmung nützen und ausdehnen können“. Kentler schrieb 30 Jahre zuvor: „Der politisch engagierte Sexualerzieher spielt eine zentrale Rolle; er führt das Kind in eine selbstbestimmte Sexualität ein.“ Und Sexualerziehung solle Kindern und Jugendlichen „Begierde und Lust“ ermöglichen.

Doch sexualisierte Kinder handeln nicht autonom und selbstbestimmt, sondern sie sind manipuliert und verführt. Valtl hingegen konstatiert eine Entmündigung des Kindes, wenn man ihm „sexuelle Bildung“ vorenthalte:

Emanzipatorische Sexualpädagogik widerspreche allen Ansätzen, die eine feststehende Orientierung auf der Ebene sexuellen Verhaltens vorgeben, etwa der „Erziehung zur Liebesfähigkeit“, schreibt Valtl, „Solche Ansätze entmündigen das Individuum und tragen eine uneingestandene Ideologie in sich, die einzelne Aspekte von Sexualität verabsolutiert, während sie andere ausklammert.“

Valtl empfiehlt die Entgrenzung des Triebhaften: Die Emanzipatorische Sexualpädagogik verteidige „das Anarchische des Sexuellen“. Sie trete ein „für den Eigensinn der Individuen und für ihr Recht, auch spontan, unüberlegt und gelegentlich in Extremen zu handeln.“ Und sie vertraue „auf das Entwicklungspotenzial, das in der sexuellen Aktion und Interaktion selbst steckt“. Man solle sich selbst erfahren und seinen „Standpunkt immer wieder neu bestimmen“ können.

Was Valtl formuliert, sind die alten Kentler-Thesen wie „Lernen durch tun“. In einem Wort: Sexualisierung! Ein Abbruch der Kindheit. Ein Fünfjähriger, der beim „Original Play“ seinem Erzieher näher kommt, handelt nicht selbstbestimmt.

Die Aufgabe emanzipatorischer „Anti-Tabu-Arbeit“ sei es, sich den jeweils „am strengsten sanktionierten Tabus entgegenzustellen und sie kritisch zu hinterfragen“. Auch das „dunkle Gesicht der Sexualität“ sei anzusehen, „ohne darauf gleich mit dem pädagogischen Reflex des ‚Reinhalten-‘ und ‚Beschützen-Wollens‘ zu reagieren“. Valtl empfiehlt: „An die Seite des Strebens nach Befreiung von muss auch das Streben nach Befreiung zu treten.“ Befreiung zu – so lässt sich Überwältigung, Indoktrination, Scham- und Grenzverletzung auch ausdrücken.

Sinnlichkeit in der Sexualpädagogik“

„Die Sinnlichkeit in die Sexualpädagogik zurückholen“, lautet das abschließende und zentrale Kapitel in Valtls Vortrag. Hier formuliert er die wesentlichen Annahmen der lustzentrierten, „sexualfreundlichen“ beziehungsweise neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik.

„Sinne und Sinnlichkeit“ sei neben den Selbsterfahrungsanteilen der am meisten umkämpfte Baustein im isp-Curriculum, weiß Valtl aus Erfahrung mit Kultusministerien. Der Grund liegt auf der Hand, wenn man in Valtls Vortrag weiterliest: Sexualität sei kein primär intellektuelles Phänomen, sondern habe viel zu tun „mit nackter Haut und Erregung aller Sinne, mit höchster Bündelung unseres Wollens auf einen Punkt und Hingabe an den Augenblick“.

Die meisten Eltern sind der Ansicht, dass solche Schwärmereien ins Schlafzimmer gehören, aber nicht in die Sexualpädagogik ihrer Kinder. Wenn das pädagogische Konzept „Lernen mit allen Sinnen“, das auf einem Walderlebnispfad sinnvoll sein mag, auf die „Sexualkunde“ übertragen wird, dann ist das Ergebnis ein übergriffiger Sexualisierungsunterricht.

Kentlers Postulat vom politisch engagierten Sexualerzieher, der das Kind in eine selbstbestimmte Sexualität einführt, erweitert Valtl um eine eigene Perspektive auf die sexualpädagogische Situation. Denn das „erzieherische Verhältnis in der Sexualpädagogik“ gelte es neu zu überdenken:

Geht es wirklich darum, dass die, die schon größer, weiter und besser sind, sich um die kümmern, die noch hintendran sind? Ich glaube, das ist patriarchaler Quatsch (und nicht nur patriarchal, da ist noch mehr drin, z. B. Adultismus, Hybris der europäisch-technischen Zivilisation und bürgerlicher Standesdünkel). Das alles steht uns im Weg, das erzieherische Verhältnis als Begegnung von Individuen zu sehen, in der die Differenz von Lebensalter und Erfahrung keine so zentrale Rolle spielen und schon gar nicht so grandios zugunsten der Erwachsenen ausfallen.

Kinder und Jugendliche, die „AdressatInnen unserer Arbeit“, hätten „viel Abstumpfung der Sinne noch nicht erlitten“, schwärmt Valtl. Sie „hören noch besser als wir“, können „mehr Input aufnehmen als wir“.

Die Umkehrung des pädagogischen Verhältnisses soll die „Sinnlichkeit in die Sexualpädagogik zurückholen“. Wer kann hier von wem noch etwas lernen, wenn frische und unbelastete Sinne eine zentrale, aber Alter und Erfahrung keine Rolle spielen sollen, lautet die implizite rhetorische Frage. Der erwachsene Pädagoge will dem Kind nicht nur auf Augenhöhe begegnen, sondern das Kind auf einen Thron heben und seine kindliche Sinnlichkeit verklären. Das Kind, das spontan und ohne abgestumpfte Sinne seine kindlichen, ursprünglichen Impulse ins sexualpädagogische Setting einbringt, ist eine pädophile Projektion. Ihm gegenüber steht der antiautoritäre Sexualpädagoge, der seine patriarchalen, adulten und bürgerlichen Reflexe überwunden hat, und alles ehrfürchtig geschehen lässt.

Von der Theorie zur Praxis

Die pädophile Verantwortungsübertragung auf das Kind ist kein vereinzelter Ausrutscher. Die „Lust am Kind“, wie ein Buch des Pädophilieverharmlosers Rüdiger Lautmann heißt, hat in den 1970er-Jahren das reformpädagogische Verständnis geprägt. Es versandete später nicht im sich ändernden Zeitgeist, sondern rumorte in den einschlägigen Zirkeln und auch im isp-Universums weiter, wie folgende Vision Valtls zeigt: „Es geht im Grunde um nichts Geringeres als um einen Beitrag zu einer epochalen Trendwende in unserem Verständnis von Erziehung und Bildung. Pestalozzis Ideal von einer ‚allseitigen Menschenbildung‘ umfasst eben auch Genusswerte.“

Valtls Vision von der Befreiung der Kinder zur sexuellen Sinnlichkeit wurde bildungspolitische Wirklichkeit. Die treibende Kraft dahinter war Uwe Sielert. Acht Jahre später, im Jahr 2005, hielt Sielert auf der Fachtagung „Kuscheln, Fühlen, Doktorspiele… – Frühkindliche Sexualerziehung in der Kita“ einen Vortrag mit dem Titel: „Sexuelle Bildung von Anfang an! Sexualität und Sexualerziehung im Bildungsauftrag von Kindertagesstätten.“ Seinen politischen Erfolg der „sexuellen Bildungsoffensive“ belegt Sielert anhand einiger neuer Erziehungs- und Bildungskonzepte, etwa des Landes Sachsen Anhalt. Sielerts Einschätzung nach enthalten sie „deutliche Ansatzpunkte für sexuelle Bildung“, denn nun existiere „ausdrücklich die Erlaubnis zum konkreten sexuellen Erfahrungslernen“.

Valtl hatte 1997 schon Vorstellungen davon, welche vermeintlich „unschuldigen Übungen“ unter dem Begriff „sexuelle Bildung“, den er gemeinsam mit seinem Kollegen Sielert entwickelt hatte, später einmal in Kitas und Klassenzimmern ablaufen sollten:

Dabei sind es so einfache und unspektakuläre, fast ‚unschuldig‘ zu nennende Übungen, um die es hier geht, zu Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und Sehen. Sie haben nur einen Makel: Sie machen Spaß. Und das macht sie suspekt. Lust, ja womöglich Anflüge von Erregung im deutschen Bildungswesen — darf das denn sein?

Die neo-emanzipatorische Sexualpädagogik hat das Bildungskonzept der gezielten sexuellen Erregung und entsprechende Formulierungen wie „Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen und Sehen“ teils wörtlich übernommen. „Zum Sex gehören alle Sinne. Sich ansehen, hören, spüren, riechen und schmecken“, heißt es zum Beispiel in der seit über zehn Jahren erhältlichen Pro-Familia-Broschüre „Sex, Respekt, Lust und Liebe“, die sich an Jugendliche richtet. Und weiter: „Tiefe Blicke, miteinander flirten, sich aneinander schmiegen, reden, küssen, streicheln, sich gegenseitig ausziehen – das alles kann sexy und erregend sein. Probiert, was euch gefällt.“ Von Liebe ist nicht die Rede, von Lust und „vielen verschiedenen Sex-Praktiken, Stellungen und Varianten“ um so mehr.

Karlheinz Valtls Wirken für die emanzipatorische Sexualpädagogik zeigt also: Von der Theorie zur Praxis sind es kurze Wege. Die Botschaft „Probiert, was euch gefällt.“ soll in jedes Klassenzimmer. Valtl war in seiner Zeit als Sexualpädagoge ein intensiver Wegbegleiter und Unterstützer Uwe Sielerts. Gemeinsam ersannen sie den Begriff „sexuelle Bildung“ und erste Konzepte mit dem Ziel, Kinder sexuell zu enthemmen und zu einer lustzentrierten Sexualität zu erziehen. Valtls Agenda war es, Kentlers pädophile Vorstellungen von Sexualerziehung durch gefällige philosophische und emanzipatorische Untermauerung für das deutsche Bildungssystem aufzubereiten – und dies mit recht genauer Vorstellung von der „erregenden“ praktischen Umsetzung.

Hinweis: Das Titelbild dieses Beitrags wurde mithilfe künstlicher Intelligenz generiert und stellt keine reale Szene dar.