Das Pädophilen-Netzwerk um den 2008 verstorbenen Sexualreformer und Pädagogikprofessor Helmut Kentler ist größer und vielschichtiger in politische und wissenschaftliche Institutionen verwoben als bisher bekannt. Zu diesem Ergebnis kommt die vergangene Woche öffentlich vorgestellte Studie „Helmut Kentlers Wirken in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe“. Anders als im Dezember 2022 veröffentlichten Zwischenbericht der Hildesheimer Forschergruppe enthält ihr abschließender Ergebnisbericht nun konkrete Orte und Namen. Ein Beitrag von Dr. Martin Voigt.
Beauftragt waren die Forscher, die „organisationalen Strukturen“ hinter dem sogenannten „Kentler-Experiment“ zu erhellen. Ab Ende der 60er Jahre hatte der angesehene Sozialpädagoge sechs- bis 14jährige Jungen aus schwierigen Familienverhältnissen bei pädosexuellen Männern untergebracht. Die „Pflegeväter“ waren meist vorbestrafte Sexualstraftäter. Kentler machte aus seinem Experiment kein Geheimnis. Der Präsident der „Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung“ hatte öffentlich die Ansicht vertreten, „dass sich päderastische Verhältnisse sehr positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Jungen auswirken können, wenn der Päderast ein regelrechter Mentor des Jungen ist“. Und an anderer Stelle: „Mir war klar, dass die drei Männer vor allem darum so viel für ‚ihren‘ Jungen taten, weil sie mit ihm ein sexuelles Verhältnis hatten.“ Was damals unter dem Label der extrem populären Reformpädagogik lief, erstickte jegliche Bedenken im Keim.
Akademisch gebildete Pädophile mit einer Leidenschaft für pädagogische Disziplinen
Was ist damals geschehen in den West-Berliner Wohnungen der Pflegeväter? Wie oft? Wie viele Jahre? Wer alles wusste von dem Kindesmissbrauch? Nach ersten Berichten über Kentler in der Emma Anfang der 1990er Jahre versandete der Skandal wieder. Erst mit dem Pädophilie-Skandal in der grünen Partei geriet die Person Kentler wieder in den Fokus. Der öffentliche Druck nahm zu. 2015 gab die Berliner Senatsverwaltung bei der Politikwissenschaftlerin Teresa Nentwig vom Institut für Demokratieforschung in Göttingen eine Studie über Kentlers „Experimente“ in Auftrag. Im Jahr 2018 beauftragte sie schließlich die Institute für Sozial- und Organisationspädagogik sowie Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim mit der grundlegenden Aufklärung der Strukturen um Kentler. Schon der Zwischenbericht stellte klar, der Fokus auf Berlin und Kentler ist viel zu eng gefasst:
Das „Kentler-Experiment“, das bislang noch als ein aus dem Ruder gelaufenes Resozialisierungsprojekt innerhalb Berlins abgetan werden konnte, ist nur die Spitze eines landesweit agierenden Pädophilen-Rings. Akademisch gebildete Pädophile mit einer Leidenschaft für pädagogische Disziplinen hatten sich bundesweit organisiert und gelernt, auf der Welle der sexuellen Befreiung zu surfen. Die Welle der Reformpädagogik hatten sie teils selbst mit angestoßen.
Das macht auch die Hildesheimer Studie deutlich: Die wissenschaftliche Fassade und das sich gegenseitige Bestätigen durch wissenschaftliche Gutachten, Empfehlungen und Publikationen waren die Schutzmauern um das pädosexuelle Netzwerk. Sein Fundament waren die guten persönlichen Kontakte in den Berliner Senat, zu den Mitarbeitern westdeutscher Jugendämter, zu Sozialarbeitern in Jugendheimen und auch in der Jugendarbeit der evangelischen Kirche. Über diese Strukturen hatte der Pädophilen-Ring Zugriff auf minderjährige Jungen.
Doch die Duldung, Unterstützung und Ermöglichung von sexualisierter Gewalt in diesem jahrzehntelangen und perfekt durchorganisierten Ausmaß beschränkt sich nicht auf die persönliche Verbindung zwischen ein oder zwei handvoll pädophiler Akteure, sondern das Netzwerk ist eingebettet in Diskurse, wissenschaftliche und politische Institution sowie Schulen und Kirchen. Als zentrale Knotenpunkte des Netzwerks nennt der Abschlussbericht Göttingen, Berlin, Tübingen, Lüneburg, Hannover und die Odenwaldschule in Heppenheim. Und er nennt die Namen derjenigen, die Kinder sexuell missbraucht haben: Gegenwärtig könne als belegt festgehalten werden, „dass Gerold Becker, Herbert E. Colla-Müller und Helmut Kentler sexualisierte Gewalt ausgeübt haben.“ Darüber hinaus gebe es zahlreiche weitere Akteure.
Schutzmechanismen um Kentler und seine Mitstreiter greifen bis heute
Kennen gelernt hatte sich der Kern des Netzwerks noch im Studentenalter im Pädagogischen Zentrum der Universität Göttingen oder sie haben in der nahegelegenen Jugendschutzstätte „Haus auf der Hufe“ als Sozialpädagogen gearbeitet. Becker wurde Leiter der Odenwaldschule und Colla-Müller Professor für Sozialpädagogik an der Leuphana Universität in Lüneburg. Weitere Akteure besetzten ebenfalls Schlüsselpositionen in der Wissenschaft, in der Politik, in Behörden und Ämtern sowie in der Jugendarbeit. Kentler zum Beispiel schrieb auch Gutachten für die Angeklagten in Missbrauchsfällen und rühmte sich damit, dass er stets eine Einstellung des Verfahrens oder Freisprüche erwirken konnte.
Die sechs Autoren des über hundert Seiten starken Berichts machen keinen Hehl daraus, dass sie angesichts der vielen losen Enden, die auf weitere Abgründe hindeuten, eigentlich erst am Anfang der Aufarbeitung stehen. Allein das Privatleben der wichtigsten Akteure wäre eine eigene Studie wert. Vom sexuellen Missbrauch der Pflegekinder oder von Heimkindern, die auf Urlaubsreisen mitgenommen wurden, zeugen Berichte der Betroffenen und Briefe der Akteure. Weitaus komplexer sind die Strukturen, die der jahrzehntelang gewachsene Pädophilen-Ring aufgebaut hat. So belegen etwa Akten des Berliner Jugendamtes , dass Kentler und seine Vertrauten sich immer an die gleichen Mitarbeiter gewandt haben, um Jungen zu vermitteln.
Die „Institutionalisierung der Gewalt“ und deren systematische Duldung trotz eindeutiger Hinweise auf pädophilen Missbrauch beschäftigt nun seit vergangener Woche sämtliche Medien vom Spiegel bis zur FAZ. Auffallend ist dabei der historisierende Blick auf die mächtigen Strukturen, die das Netzwerk aufgebaut hatte. Doch die Wissenschaftler betonen, dass die Schutzmechanismen um Kentler und seine Mitstreiter bis heute greifen. Sexualisierte Gewalt werde bagatellisiert und als Teil des damaligen Zeitgeistes beschrieben. Jedoch hätten Akteure der wissenschaftlichen Sozialpädagogik als auch der Sexualpädagogik bis heute wirkende Diskurse geschaffen, „die als Verdeckungsmodi sexualisierter Gewalt in der Kinder- und Jugendhilfe beschrieben werden können“, heißt es in der Studie. Zu dem Netzwerk gehörten auch Wissenschaftler, die „die Schriften Helmut Kentlers weiterhin rezipiert haben beziehungsweise rezipieren“ und sich somit nicht von ihm und seinen Positionen und Handlungen distanzierten.
Berlins Jugendsenatorin fördert Kentlers pädophile Pädagogik
Kaum einer der zahllosen Zeitungsberichte erwähnt, dass Kentler der Nestor der „emanzipatorischen Sexualpädagogik“ war. Die Sexualpädagogik, die heute von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und pro familia in moderne sexualpädagogische Konzepte gegossen und in sämtlichen Schulen und Kitas angewendet wird, beruht – teils noch wörtlich – auf der pädophilen Pädagogik Helmut Kentlers. Die Unwissenheit über die Herkunft der heute üblichen Sexualpädagogik, oder das absichtliche Ausblenden, kann zu skurrilen Szenen in der Politik führen.
So sprach Berlins Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) bei der Vorstellung des Abschlussberichts von „unsäglichen Experimenten“, die während des bedrückendsten Kapitels der Geschichte der Berliner Kinder- und Jugendhilfe durchgeführt worden seien. Doch nahezu zeitgleich wurde unter der Verantwortung von Günther-Wünsch ein Entwurf für ein neues „Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege“ öffentlich, der einer Phantasie Kentlers entsprungen zu sein scheint:
Kleinkinder im Alter von null bis sechs Jahren sollen lernen, „Lustgefühlen am eigenen Körper“ zu genießen, heißt es in dem Entwurf, und weiter: „Kinder entdecken ihre eigenen Geschlechtsteile, erforschen sie intensiv und möchten diese Erfahrungen mit anderen Kindern teilen. Sie lieben es zu spielen und entdecken ihren Körper zum Beispiel über Rollen- oder Bewegungsspiele.“ Die Kinder sollen ihre Sexspiele „mit gemeinsamen Absprachen“ begleiten und eine gegenseitige anale oder orale Penetrierung, wenn möglich, vermeiden – „aufgrund des Verletzungsrisikos“. Ziel sei es, dass die Kinder insgesamt „eine sexual-freundliche und sinnesfördernde Haltung“ entwickeln. Zwar hat die Berliner Bildungsverwaltung der Einrichtung von Sexräumen in Kindertagesstätten eine Absage erteilt, doch fast sämtliche sexualpädagogischen Konzepte und auch die Konzepte zur Missbrauchsprävention, die in Kitas kursieren, beruhen oft wortgetreu auf Kentlers emanzipatorischer Sexualpädagogik.
Kentlers pädophile Pädagogik hat heute Monopolstellung inne
Kentler hat seine pädophilen Phantasien in eine pseudowissenschaftliche Pädagogik fließen lassen, die an die Ideen der sexuellen Befreiung anknüpft. Kinder seien vom Säuglingsalter an sexuelle Wesen. Ihre Sexualität sei eine von Geburt an zu fördernde Grundfähigkeit, die wie Sprechen oder Laufen durch Übung erlernt werden müsse. Jedes Kind habe ein Recht auf ein eigenes Sexualleben. Daher sei es die Aufgabe der Sexualerziehung, Kindern und Jugendlichen „Begierde und Lust“ nach dem Prinzip ‚Lernen durch Tun‘ zu ermöglichen und sie in eine selbstbestimmte Sexualität einzuführen. „Genau diese Befreiungsrhetorik wird zu einer pädagogischen Begründungsform, um die Grenzen zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität zu verwischen“, heißt es auch in der Hildesheimer Studie.
Kentlers pädophile Pädagogik ist auf übergriffige Interaktion und die Zerstörung der Schamgrenzen ausgerichtet. Sie hat in Kitas und Schulen eine unangefochtene Monopolstellung inne, jüngst grotesker Weise immer öfter unter dem Label „Missbrauchsprävention“. Wie es zur flächendeckenden Verbreitung der „emanzipatorischen Sexualpädagogik“ kommen konnte, hat DemoFürAlle mehrfach thematisiert, zum Beispiel ausführlich hier und hier. Bleibt zu hoffen, dass die Forscher aus Hildesheim ihre Studien, wie angekündigt, fortführen, und dabei Kentlers Wirken als Sexualreformer und Begründer der heute verbreiteten Sexualpädagogik herausarbeiten – so deutlich herausarbeiten, dass auch der Berliner Senat nicht zum zweiten Mal beide Augen vor dem sexuellen Missbrauch im Rahmen pädagogischer Settings verschließen kann.