Kentlers Erben – Für „sexualfreundliche Erziehung“

Stefan Timmermanns, Jahrgang 1968, ist Erziehungswissenschaftler und seit 2013 Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. Zuvor war er pädagogischer Mitarbeiter beim Deutschen Kinderschutzbund, Sexualpädagoge bei pro familia und Referent bei der Deutschen AIDS-Hilfe. Seit vielen Jahren ist Timmermanns Mitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp) und seit 2024 dessen erster Vorsitzender.

Timmermanns Promotion der Universität Köln trägt den Titel „Keine Angst, die beißen nicht! Evaluation schwul-lesbischer Aufklärungsprojekte in Schulen“ (2003). Die Arbeit evaluiert Aufklärungsprojekte mit Fokus auf LGBT-Jugendliche. Sie wurde von queeren Jugendnetzwerken unterstützt und von dem LGBT-Verband Lambda herausgegeben. Timmermanns war selbst sieben Jahre ehrenamtlich in schwul-lesbischen Aufklärungsprojekten tätig. Die Themen Coming OutDiskriminierung, Schwules Leben und „sexuelle Vielfalt“ sind seine Schwerpunkte in schulischer Bildung, universitärer Lehre und Forschung.

Sexuelle Vielfalt“ als konsequente Fortführung Kentlers emanzipatorischer Pädagogik

Timmermanns persönliche Agenda innerhalb der sexuellen Bildung ist es, Heteronormativität einzureihen ins vielfältige Spektrum menschlicher Sexualität. Sämtliche Spielarten legaler Sexualität seien als gleichwertig und Heterosexualität darunter nur als eine mögliche Orientierung darzustellen. Zum Beispiel sollen Lehrer die gesamte Bandbreite der Sexualität innerhalb einer Unterrichtseinheit besprechen. Die Trennung zwischen Heterosexualität und anderen Formen der Sexualität „nicht zu scharf werden lassen“, empfahl Timmermanns in dem Vortrag „Schulische Bildungsarbeit zu sexueller Vielfalt“.

Timmermanns fokussiert sich verengend auf die „Vielfalt gelebter Sexualitäten“ und trägt so zu ihrer Normalisierung und Aufwertung bei. Dies ist eine Fortführung und Zuspitzung der „neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik“ Uwe Sielerts. Diese formuliert noch allgemeiner das Ziel, eine „Sexualität bejahende Haltung“ in der Sexualpädagogik durchzusetzen. Die Betonung sexueller Lust machte Sielert zur Grundlage seiner „sexuellen Bildung“, die heute flächendeckend in der schulischen Sexualpädagogik verankert ist. Sielert wiederum war der Meisterschüler Helmut Kentlers. Er entwickelte die lustzentrierte Sexualerziehung Kentlers weiter und transformierte dessen „emanzipatorische Sexualpädagogik“ ins deutsche Bildungssystem. Auch die pädagogischen Empfehlungen der BZgA und WHO enthalten zentrale Thesen Kentlers.

Es ist also konsequent, dass Timmermanns sich gleichermaßen auf Sielert und Kentler beruft. In der sexualpädagoischen Materialsammlung „Sexualpädagogik der Vielfalt“, die er erstmals 2008, und überarbeitet 2012, gemeinsam mit seiner Kollegin Elisabeth Tuider herausgibt, betonen die Autoren im Vorwort:

Auch wir haben unsere Wurzeln in der neo-emanzipatorischen Sexualpädagogik in der Tradition Helmut Kentlers, Fritz Kochs und Uwe Sielerts und fühlen uns ihrem Ziel, Menschen jeden Alters zu einem selbstbestimmten und verantwortungsvollen Umgang mit Sexualität zu befähigen, verpflichtet.“

Und ergänzend heißt es auf den nachfolgenden Seiten:

Die emanzipatorische Sexualpädagogik propagierte seit ihrer Grundlegung durch Helmut Kentler 1970 eine gesellschaftskritische Befreiung des Menschen aus seiner sexuellen Unmündigkeit.“

Sexualfreundliche Erziehung“ und „mehr Männer in Kitas“

Als langjähriges Mitglied der gsp ist Timmermanns mit den für die Kentler-Sielert-Schule grundlegenden Thesen Kentlers vertraut und lässt sie in seine Beiträge einfließen. Deutlich wird dies beispielsweise in seinem in der „Zeitschrift für frühe Kindheit“ erschienen Beitrag „Sexualfreundliche Erziehung in Kitas. Definitionen und Argumente“. In ähnlicher Ausführung findet sich auf YouTube Timmermanns Vortrag „Sexualfreundliche Erziehung in der Konzeption einer Kita“, den er auf einer Studientagung der Evangelische Kirche in Hessen und Nassau gehalten hat. Rahmen gebend war dabei das Bundesmodellprojekt „Mehr Männer in Kitas“.

Wie für Pädagogen der „sexuellen Bildung“ üblich, beschreibt Timmermanns in seinen Ausführungen kindliches Nähe-, Bindungs, und Neugierverhalten mit dem Begriff „kindliche Sexualität“. Somit vollzieht er trotz der Bemühung um inhaltliche Abgrenzung eine begriffliche Gleichsetzung mit der Sexualität von Erwachsenen:

Kinder, die mit ihren Eltern schmusen, mit Gleichaltrigen Doktorspiele machen oder sich ganz unbefangen an den eigenen Geschlechtsteilen berühren, messen diesen Handlungen eine andere Bedeutung zu als Erwachsene. […] Dennoch nehmen auch Kinder in solchen Situationen intensiv und lustvoll ihren Körper wahr, sammeln Sinneseindrücke, entwickeln Gefühle, wenn sie ihren Körper (und den anderer) spüren. […] Es gibt also nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten in der Sexualität von Kindern und Erwachsenen.“

Timmermanns und Kentler: „Kindliche Sexualität fördern, begleiten und unterstützen“

Auf diesem Verständnis von „kindlicher Sexualität“ aufbauend leitet Timmermanns Argumente für eine „sexualfreundliche Erziehung im Kindergarten“ ab, wobei er sich auf das „Handbuch für Erzieherinnen und Erzieher“ der BZgA (2003) bezieht, das der BZgA-Kindergartenbox „Entdecken, schauen, fühlen“ beigelegt war. Die „sexualfreundlichen“ Erzieher „haben die Aufgabe, die Kinder in ihren altersgemäßen, kindlichen Ausdrucksformen zu verstehen, zu fördern, zu begleiten und zu unterstützen“, fasst Timmermanns die Aussagen des BZgA-Handbuchs zusammen.

Die Behauptung, dass „kindliche Sexualität“, also laut Timmermanns etwa Doktorspiele oder das Berühren der Geschlechtsteile, „zu fördern, zu begleiten und zu unterstützen“ sei, ist eine Adaption der Postulate Kentlers. Der schreibt: „Sexualität ist eine von Geburt an zu fördernde Grundfähigkeit, die wie Sprechen oder Laufen durch Übung erlernt werden muss. Jedes Kind hat ein Recht auf ein eigenes Sexualleben.“ Und ähnlich: „Der politisch engagierte Sexualerzieher spielt eine zentrale Rolle; er führt das Kind in eine selbstbestimmte Sexualität ein.“

Dieses Verständnis von „sexualfreundlicher Erziehung“, wie es die BZgA definiert, biete aus Timmernanns Sicht eine Reihe von Vorteilen. Ein „offener, transparenter Umgang mit dem Körper, mit Nacktheit und Sexualität“ werde möglich. „Tabubehaftete Themen wie Nähe und Distanz zwischen Erziehern/Erzieherinnen und Kindern“ könnten leichter mit den Eltern besprochen besprochen werden. Wenn etwa entstehende Konflikte „offen und transparent“ beigelegt werden könnten, bräuchten Männer als Erzieher weniger Angst haben, unter „Generalverdacht“ gestellt zu werden, betont Timmernanns, und ergänzt: „Dafür, dass Kinder nicht nur zu Hause in der Familie, sondern auch im Kindergarten beim Entdecken ihres Körpers und ihrer Sexualität freundlich begleitet werden sollten, gibt es zahlreiche Gründe.“

BZgA-Argumente weiterentwickelt: Sexualfreundliche Erziehung in der Kita

Sechs Argumente aus dem BZgA-Handbuch hat Timmermanns aufgegriffen und weiterentwickelt. Deren Kerngedanken, die teils Kentlers emanzipatorischen Vorstellungen von Sexualerziehung entsprechen, sind folgende:

1. Damit sich „die Bilder der Kinder über Sexualität“ nicht ausschließlich aus den Medien speisen, müsse mit Kindern ausreichend „über sexuelle Dinge“ gesprochen werden. „Eine kritische Medienerziehung gehört daher heute zu jeder Sexualerziehung egal welchen Alters dazu.“

→ So können aber auch Medien als Vorwand dienen, Kinder proaktiv mit „sexuellen Dingen“ vertraut zu machen, denn schließlich könnten sie in den Medien darauf stoßen.

2. Erzieher hätten gegenüber der Familie den großen Vorteil, dass sie mit den Kindern „neutraler“ über körperliche Vorgänge und Sexualität sprechen könnten. „Sie können auch dazu beitragen, dass sich der Wissens- und Erfahrungshorizont der Kinder erweitert, z. B. dass es andere Lebensweisen und Partnerschaftsformen gibt als die im eigenen Elternhaus.“

→ Kentler hatte solch eine explizit queere Indoktrination noch nicht auf dem Schirm, sehr wohl aber die Verquickung von Sexualität und politischen Machtverhältnissen: „Sexualerziehung ist zugleich politische Erziehung“, lautet die achte seiner zehn Thesen zu einer nichtrepressiven Sexualerziehung. Zudem plädierte Kentler ebenso vehement wie Timmermanns für eine außerfamiliäre Sexualerziehung, mit der ähnlichen Begründung, dass Eltern damit überfordert und befangen wären, und dass Erzieher professioneller über Sexualität informieren könnten.

3. „Sinnesschulung und Körpererleben“ können Kinder in einer Kita-Gruppe leichter erfahren als zu Hause. „Sich und andere erkunden, sind wichtige Lernerfahrungen, die Kinder heutzutage eher im Kindergarten ausprobieren und erleben können als im familiären Bereich.“

→ Diese Behauptung widerspricht den Erkenntnissen der Bindungsforschung, die für jene skizzierten Entwicklungsschritte des Kindes eine emotional stabilen Bindung in der Familie als Voraussetzung sieht.

Steile These: Einfluss der Kita-Erziehung auf sexuelle Entwicklung

4. „Sexualerziehung wirkt sich positiv auf Kinder aus.“ Werde die sexuelle Entwicklung des Kindes „begleitet und gefördert“, nutze das der Persönlichkeitsentwicklung, etwa der Herausbildung einer eigenen Geschlechtsidentität, sowie „dem späteren körperlichen und partnerschaftlichen Erleben“. Erzieher sollen daher verständnisvoll auf die sexuellen Äußerungen und Ausdrucksformen der Kinder reagieren.

→ Der Zusammenhang zwischen einer „frühen außerfamiliären Sexualerziehung“ und dem „späteren körperlichen und partnerschaftlichen Erleben“ ist wissenschaftlich nicht erforscht. Und er überfrachtet die Kita-Betreuung. Entscheidend für die spätere Identität in Bezug auf Geschlecht, Sexualität und Partnerschaft sind abermals die Erfahrungen in der Kernfamilie.

5. „Körperwahrnehmung und Sinneserfahrung hängen eng mit den Intim- und Schamgrenzen zusammen.“ Daher sei Sexualerziehung auch Sozialerziehung: Kinder „lernen sich selbst, ihren Körper und seine Grenzen kennen“. Eine sexualfreundliche Erziehung versetze sie in die Lage, die Grenzen anderer wahrzunehmen und zu akzeptieren.

→ Der Einfluss der Erziehung in der Kita auf die Entwicklung bewusster körperlicher Grenzen wird überbetont. Das pädagogische Anbieten von Körpererkundungsspielen provoziert Grenzverletzungen, die angeblich einen Lerneffekt darstellen sollen. Intim- und Schamgefühle entwickeln Kinder weniger unter Gleichaltrigen sondern vielmehr in sicheren Bindungssystemen, in aller Regel ist das ihre Familie.

Kentler, Sielert, Timmermanns: Sexualfreundliche Erziehung

6. Kinder sollen „bereits in frühem Alter eine sexualfreundliche Erziehung genießen“. Denn sind sie „über ihren Körper, seine Organe und Sexualität informiert“, und haben eine Sprache dafür erlernt, seien sie eher in der Lage, „sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren bzw. frühzeitig davon zu erzählen und Hilfe zu holen, als Kinder, für die jegliches Reden über Sexualität Tabu ist.“ Eine Sexualerziehung, „die sich rein auf die Prävention von sexualisierter Gewalt beschränken würde, ist abzulehnen, weil hier der erste Zugang zum Thema Körper und Sexualität durch die Abwehr von Gefahren dominiert wäre und die Vermittlung einer positiven Einstellung daher schwer fallen würde.“

→ Was Timmermanns hier fordert, bedeutet, dass Kinder unter dem Vorwand der Abwehr sexueller Übergriffe letztlich auch über das sexuelle Begehren Erwachsener „informiert“ sein sollen. Die für ihr Alter unangemessene Konfrontation mit dem sexuellen Handeln Erwachsener überfordert Kinder jedoch in hohem Maße und irritiert ihre natürlichen Abwehrmechanismen. In ihren Schamgefühlen verunsicherte und überforderte Kinder, für die „jegliches Reden über Sexualität“ normal geworden ist, nehmen das ihnen vertraut gewordene Sexuelle, das sich ihnen womöglich in Form von erwachsener Begierde nähert, nicht mehr unbedingt als Gefahr wahr. Vor allem eine sexualfreundliche Erziehung, die Kinder aufgeschlossen macht gegenüber schönen körperlichen Gefühlen, ruft auch eine höhere Toleranz gegenüber als angenehm empfundenen Annäherungen hervor.

Das modern anmutende Argument, sexualfreundlich erzogene Kinder seien gegen Missbrauch besser gewappnet, ist so alt wie die emanzipatorische Sexualpädagogik selbst. 2011 drückte Sielert diese Behauptung im Beitrag „Paradigmenwechsel der Sexualpädagogik im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen“ recht provokant aus: „Im Namen sexueller Lust ist bisher kaum eine pädagogische Theorie oder Konzeption entstanden, obwohl das die beste Prävention auch gegen alle möglichen Gefahren wäre.“

Jahrzehnte zuvor schrieb bereits der pädophile Missbrauchstäter Helmut Kentler in „Eltern lernen Sexualerziehung“ über den Zusammenhang sexueller Lusterfahrungen im Kindesalter und präventiven Effekten: „Sexuell befriedigte Kinder (…) sind vor sexueller Verführung und sexuellen Angriffen am besten geschützt.“ Und ebenda: „Das sexuell unerfahrene Kind reagiert auf sexuelle Verlockungen ängstlich, unsicher, aber auch neugierig, und darum verfällt es einem Erwachsenen viel leichter als das sexuell aufgeklärte Kind.“

Weder Sielert noch Kentler können eine wissenschaftliche Studie für ihre grotesken Thesen anbieten. Bei Kentler ist offensichtlich, dass die Intention keine wissenschaftliche sondern eine pädophile ist: Ein Kind, das sich freiwillig und in Kentlers Sinne aufgeklärt auf Annäherungsversuche einlässt, gilt ihm nicht als missbrauchtes Kind.

Emanzipatorisches Ziel: Eltern verunsichern, Kinder „professionell“ erziehen

Timmermanns hat inhaltlich starke Bezüge zu Kentlers emanzipatorischer Sexualpädagogik. Zum einen mit seiner Empfehlung, die „sexualfreundliche Erziehung“ in einem frühen Alter beginnen zu lassen. Und zum anderen vor allem mit seinem wiederholten Plädoyer, diesen sensiblen Aspekt der Erziehung aus der Familie in die Kita zu verlagern. Kentler hatte zu seiner Zeit zwar vor allem die Sexualerziehung in der Schule im Blick. Doch die Intention, Eltern in ihrer natürlichen Kompetenz zu verunsichern, und ihnen die sexuelle Aufklärung ihrer Kinder aus der Hand zu nehmen und in die Zuständigkeit von „professionellen“ Pädagogen zu übergeben, ist charakteristisch für die emanzipatorische Pädagogik der Kentler-Sielert-Schule. Denn ihr Ziel ist es, die Identität und Einstellung der Kinder hinsichtlich ihrer Sexualität und ihres sexuellen Beziehungshandelns nach eigenen Vorstellungen zu prägen.

Hinweis: Das Titelbild dieses Beitrags wurde mithilfe künstlicher Intelligenz generiert und stellt keine reale Szene dar.